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Schweiz «Weniger ist am Lebensende manchmal mehr»

Auf die Palliativ-Station eines Spitals verlegt zu werden, ist für viele Patienten ein Schock. Sie fürchten, dort zu sterben. Dabei stirbt nur etwa jeder dritte Palliativpatient im Spital. Die meisten können nach Hause – und das tun, was am Ende wichtig ist: Zeit mit nahen Menschen verbringen.

«10vor10»-Serie

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60'000 Menschen sterben jedes Jahr in der Schweiz. Der Bundesrat will, dass jeder Zugang zu Palliative Care hat – einer Form von Medizin, die Schmerzen lindert und Lebensqualität erhält. Das BAG geht davon aus, dass künftig zwei Drittel der Sterbenden Palliative Care in Anspruch nehmen. Was heisst das? Dieser Frage geht die «10 vor 10»-Serie nach.

Frau S. hat sich anfangs dagegen gewehrt, auf die Palliativ-Station des Berner Inselspitals verlegt zu werden. Die 28-jährige Patientin will vom Tod nichts wissen, auch wenn in ihrem Bauch ein 20 Zentimeter grosser Tumor wächst, der sich nicht mehr operieren lässt. Frau S. hat vor wenigen Wochen ihr zweites Kind geboren und möchte so schnell es geht nach Hause zu ihrer Familie. Ihr Mann weicht nicht von ihrer Seite, schläft jede Nacht bei ihr.

Hotelatmosphäre gepaart mit Spitzenmedizin

Die Palliativ-Station des Berner Inselspitals tickt anders als der Rest des Spitals. Die Zimmer sind wie Hotelzimmer gestaltet. Patienten werden ermuntert, ihre eigenen Bilder aufzuhängen, damit sie sich möglichst wie zu Hause fühlen.

Auch fixe Besuchszeiten gibt es nicht. Besucher können auf Wunsch im Zimmer der Patienten übernachten. Der Gang ist in warmem Gelb gestrichen, überall hängen Dekorationsgegenstände, die der Jahreszeit angepasst sind. «So fühlen auch wir uns wohler hier», sagt Steffen Eychmüller, der Ärztliche Leiter des universitären Palliativzentrums des Berner Inselspitals. Die Hotelatmosphäre ist gepaart mit Spitzenmedizin.

Nur besonders komplexe Fälle – zwei Prozent der Palliativ-Patienten

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Wohlfühlen steht bei Palliative Care im Zentrum. Selbst auf der hoch spezialisierten Palliativabteilung im Inselspital. Hier landen nur die komplexesten Fälle. Menschen, die nicht nur unheilbar krank sind, sondern deren Situation enorm instabil ist und deren Krankheitsverlauf komplex.

Gegen die enorme Müdigkeit, gegen die viele Tumor-Patienten zu kämpfen haben, kann die Palliativ-Medizin nichts machen. Wenn es um das Lindern von Schmerzen geht, kann sie allerdings schon helfen.

Donald W., 59, hatte aufgrund seines Bauchspeicheldrüsenkrebses so starke Schmerzen, als er auf die Palliativstation kam, dass er nicht mehr leben wollte. Während zwei Wochen auf der Station konnten die Palliativmediziner die Schmerzsituation schliesslich so gut einstellen, dass der Patient wieder nach Hause kehren konnte, zu seiner Frau.

Etwa 80 Prozent von Palliative Care findet in der Grundversorgung statt, durch Hausärzte oder die Spitex. Nur gerade zwei Prozent aller Palliativ-Patienten in der Schweiz müssen je auf eine spezialisierte Palliativstation wie jene im Inselspital.

Physio statt Chemo – weniger ist am Lebensende manchmal mehr

Ernst B., 76, hat die Palliativ-Station geholfen, der Realität ins Auge zu blicken. Es stellte sich heraus, dass ihm, der seit acht Jahren an Lungenkrebs leidet, Chemotherapie nicht mehr helfen kann. Die Nebenwirkungen waren zu gross.

Gefasst hat der Patient die Botschaft aufgenommen – und ist froh, wieder nach Hause zu kehren, für den letzten Lebensabschnitt. Auf der Palliativstation konnte er intensiv Physiotherapie machen, damit er zu Hause leben kann und die Treppen in sein Stöckli hochsteigen kann.

«Weniger ist am Lebensende manchmal mehr», sagt der Ärztliche Leiter, Steffen Eychmüller. Der Arzt, der mit seinem Team hochkomplexe Situationen behandelt, sagt, die Medizin dürfe bei Palliative Care nicht im Zentrum stehen. «Manchmal müssen wir Ärzte auch einfach unsere Klappe halten und unseren Patienten das ermöglichen, was am Lebensende so wichtig ist: Zeit mit den Menschen verbringen, die einem wichtig sind.»

Immer wieder stellt Eychmüller fest, dass seine Patienten auch schwierige Diagnosen und Prognosen viel besser annehmen können, wenn sie sich im Umfeld geborgen fühlen – und wenn die Palliative Care für den Patienten alles vorausgeplant hat. «Und da gehört immer ein Gut- und ein Schlechtwetter-Programm dazu», sagt Eychmüller.

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