Grossaufmarsch mit Kuhglocken, Buhrufe und dazu Mahnfeuer: Die Bewohner der Freiburger 1500-Seelen-Gemeinde Giffers ziehen alle Register, um das geplante Bundesasylzentrum zu verhindern. An der Informationsveranstaltung fragte ein Bewohner der Gemeinde «Wieso müssen wir alles für diese Ausländer machen?». Ein anderer behauptete, «80 Prozent sind keine echten Asylbewerber. Sie unterlaufen unser Sozialsystem». Der Gemeindeamman Othmar Neuhaus spricht gar von einem Asylanten-Tsunami, der auf die Gemeinde zurolle.
Am gleichen Tag präsentiert Amnesty International ihren Jahresbericht . Seit dem zweiten Weltkrieg hat die Welt gemäss der Organisation keinen vergleichbaren Flüchtlingsstrom mehr erlebt wie heute. Weltweit sind Schätzungen zufolge 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Vor allem aber gehen Terror-Organisationen zunehmend brutal gegen die Zivilbevölkerung vor: Entführungen, Folter, sexualisierte Gewalt, Anschläge, Artilleriefeuer und Bomben auf Wohngebiete – die Menschen fliehen nicht vor Bagatellen.
Hält man sich diese Entwicklungen und den Aufstand von Giffers vor Augen, drängt sich eine Frage auf: Wie ist es um das humanitäre Bewusstsein der Schweizer bestellt?
Private Flüchtlingsaufnahme als Indikator
Stefan Frey, Mediensprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, findet die Reaktion der Bewohner von Giffers nicht repräsentativ für das humanitäre Klima in der Schweiz: «Man sollte zwischen dem tatsächlichen humanitären Klima und dem politischen Marketing unterscheiden. Letzteres versucht, das öffentlich wahrgenommene Klima zu seinem Vorteil zu beeinflussen.»
Genauso wenig verlässlich sind Frey zufolge Online-Kommentare: «Wenn ich nach den Online-Kommentaren auf den Plattformen der grossen Tageszeitungen gehen würde, würde mir schwarz vor den Augen werden. Tatsächlich sind es aber immer dieselben User, die publizieren, also eine überschaubare Zahl von Personen.»
Ein guter Indikator seien hingegen die Angebote zur privaten Flüchtlingsaufnahme. Diese erreichen die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH mehrmals pro Woche. «Wenn man bedenkt, dass die meisten Schweizer in Mietwohnungen leben – also aus Platzgründen nicht die Möglichkeit haben, Flüchtlinge aufzunehmen – ist die Bereitschaft in der Bevölkerung ziemlich gross.
Entschlossenheit nimmt zu
Die Sensibilisierung für die Situation der Flüchtlinge in der Schweiz hat Stefan Frey zufolge mit der medialen Aufmerksamkeit im Guten wie im Schlechten zugenommen. Während bei den einen die Angst vor dem wachsenden Flüchtlingsstrom wächst, steigert sich bei den anderen die Entschlossenheit, etwas Konkretes für Flüchtlingen zu unternehmen: «Wir hören relativ oft Aussagen wie ‹Ich habe eine Ferienwohnung. Ich will jetzt etwas machen und stelle sie Flüchtlingen zur Verfügung›. Ob es mit der Unterbringung dann im Einzelfall klappt, ist eine andere Frage.»
Giffers ist überall
Der gestrige Aufstand in Giffers ist Frey zufolge keine Ausnahme. Überall, wo Asylzentren aufgestellt würden, komme es zu solchen Reaktionen: «Wenn die Zentren bezogen werden, stellt man aber fest, dass es gar kein Problem gibt und die Bevölkerung sich mit der neuen Situation arrangiert hat.»
Die heftigen Reaktionen in Giffers stellen für Frey insofern weniger eine bedrohliche als eine paradoxe und ärgerliche Situation dar: «Seit Jahren wird lautstark kritisiert, dass das Asylwesen in der Schweiz chaotisch ist. Wenn eine Strategie zum effizienteren Management des Flüchtlingswesens vorgelegt wird, kommt wieder Kritik aus genau denselben Kreisen. Man kann sich fragen, ob diese wirklich an Lösungen interessiert sind.»