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Welchen Einfluss hat die EMRK auf die Schweiz?
Aus Echo der Zeit vom 02.11.2018. Bild: Keystone
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Selbstbestimmungs-Initiative Als die Strassburger Richter die Schweiz zurückpfiffen

Genugtuung für Asbest-Opfer und einen Völkermord-Leugner: In zwei höchst unterschiedlichen Fällen unterlag die Schweiz.

Im Abstimmungskampf um die Selbstbestimmungs-Initiative der SVP spielt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) eine grosse Rolle. Die Schweiz hat diese vor 44 Jahren unterschrieben.

Wer sich hierzulande vom Staat menschenrechtswidrig behandelt fühlt, kann seither an den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gelangen – dieser entscheidet dann in letzter Instanz. Dabei verliert die Schweiz durchschnittlich zwei bis drei Mal pro Jahr einen Prozess.

Zwei Urteile mit unterschiedlichen Folgen

Direkt die Schweizer Politik beeinflussten die Strassburger Richter mit diesem Urteil 2014: «Frau Howald Moor gegen die Schweiz. Recht auf ein faires Verfahren». Asbest ist das Stichwort für diesen Fall. Geklagt hatten die Hinterbliebenen eines Arbeiters, der während Jahren in einer Maschinenfabrik mit Asbeststaub in Berührung kam.

27 Jahre nach seinem letzten Arbeitstag starb er an Brustfellkrebs, einer Krankheit, deren häufigste Ursache das Einatmen von Asbest ist. Mit ihren Genugtuungsforderungen blitzten die Angehörigen in der Schweiz vor allen Instanzen ab. Die Begründung: Solche Forderungen verjährten laut geltendem Recht nach zehn Jahren.

Genugtuung für Asbest-Opfer

Erst der Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg gab der Familie 2014 recht: Auf einer zehnjährigen Verjährungsfrist zu beharren sei unverhältnismässig, angesichts einer Krankheit, die typischerweise erst nach viel mehr als zehn Jahren auftrete.

Asbestfasern, undatierte Aufnahme.
Legende: Das Urteil aus Strassburg war eine späte Genugtuung für Asbest-Opfer und ihre Hinterbliebenen. Keystone

Opferanwalt David Husmann, zeigte sich in seiner Reaktion gegenüber SRF überzeugt, das Urteil habe grosse Bedeutung: «Dieser Entscheid gilt auch sonst.» Etwa, wenn ein Patient erst nach 15 Jahren merke, dass der behandelnde Arzt einen Fehler begangen habe: «Dann kann man auf Grundlage dieses Entscheids sagen, dass der Fall nicht verjährt ist.»

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Genugtuung für die Witwe eines Asbest-Opfers (Archiv)
Aus Kassensturz vom 11.03.2014.
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Renate Howald-Moor, die Witwe des Opfers, die durch alle Instanzen gekämpft hatte, sagte zum Sieg in Strassburg in der Sendung Kassensturz: «Genial, es ist eine wirkliche Freude. Es ist fantastisch, dass wir eine solche Etappe auf dem Weg zum Ziel erreicht haben.»

Die Schweizer Politik reagiert auf Asbest-Urteil

Dieses Ziel, das Frau Howald-Moor meinte, wurde in den Jahren darauf nach und nach erreicht: Industrieunternehmen und Verbände errichteten einen Entschädigungsfonds für Asbestopfer. Das Parlament ging die Frage grundsätzlich an und erhöhte die Verjährungsfrist von 10 auf 20 Jahre – gegen den Widerstand von Teilen der SVP und FDP.

Beschwerde in Strassburg lohnt sich selten

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Seit 1974 ist der Weg aus der Schweiz nach Strassburg knapp 7000 Mal beschritten worden. Recht gegen die Schweiz bekamen die Beschwerdeführer nur in rund 1,5 Prozent der Fälle. Mehr als 97 Prozent der Beschwerden werden vom Menschenrechtsgerichtshof gar nicht erst zugelassen.

Etwa, weil sie ungenau abgefasst sind oder nicht klar ist, auf welchen Artikel der Menschenrechtskonvention sie Bezug nehmen wollen. In den wenigen Fällen, in denen ein Urteil gefällt worden ist, haben bis jetzt etwas häufiger die Beschwerdeführer gewonnen.

Der Bundesrat hatte sogar 30 Jahre gefordert, aber auch so, sagte Justizministerin Simonetta Sommaruga im Parlament, müssten die Strassburger Richter zur Kenntnis nehmen, dass «der Gesetzgeber in der Schweiz nun auf das Asbest-Urteil reagiert und gleichzeitig eine Möglichkeit geschaffen wurde, um die Opfer zu entschädigen.» Bei einer allfälligen Neubeurteilung müsse der Gerichtshof das berücksichtigen, so die Bundesrätin damals.

Genozid-Leugner gewinnt in Strassburg

Ein anderes Urteil aus Strassburg, ein Jahr später, wurde in der Schweiz viel kontroverser aufgenommen: «Herr Perincek gegen die Schweiz. Recht auf freie Meinungsäusserung.» An verschiedenen Veranstaltungen in der Schweiz hatte der nationalistische türkische Politiker Doğu Perincek 2005 Aussagen wie diese gemacht: «Es gab keinen Genozid an den Armeniern. Im 1. Weltkrieg gab es gegenseitige Massaker und keinen Genozid.»

Doğu Perinçek
Legende: Doğu Perinçek leugnete den Völkermord gegen die Armenier wiederholt. Die Strassburger Richter urteilten, dass seine Aussagen von der Meinungsäusserungsfreiheit gedeckt seien. Keystone/Archiv

Die Schweizer Gerichte fanden, Perincek habe damit den Völkermord an den Armeniern geleugnet und so gegen die Rassismusstrafnorm verstossen. Demnach wird bestraft, wer einen Völkermord leugnet, um eine Volksgruppe zu diskriminieren.

Darf man in einer Demokratie jeden «Blödsinn» erzählen?

Die Richter in Strassburg urteilten anders. Perinceks Aussagen seien geschützt vom Recht auf freie Meinungsäusserung, denn es sei ihm nicht darum gegangen, Hass zu schüren. Andreas Dreisiebner von der Gesellschaft Schweiz-Armenien bedauerte dieses Urteil, «weil die Gewichtung der Meinungsäusserungsfreiheit über die Menschenwürde der vielen Betroffenen gestellt wurde. Das hat uns schockiert.»

Video
Strassburger Richter verurteilen die Schweiz
Aus Tagesschau vom 15.10.2015.
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Applaus gab es von der SVP, die der Rassismusstrafnorm seit je kritisch gegenüber steht. Der Zürcher Nationalrat Gregor Rutz sah sich vom Strassburger Urteil in seiner Auffassung bestärkt: «Es ist ein Problem, wenn man Meinungsäusserungen unter Strafe stellt. Ich war immer der Auffassung, dass man das nicht tun und der Artikel gestrichen werden soll. In einer freien Demokratie ist es auch erlaubt, Blödsinn zu erzählen.»

Im Gegensatz zum Asbestfall blieb das Perincek-Urteil ohne direkte politische Folgen. Das Bundesamt für Justiz stellte sich auf den Standpunkt, man müsse die Rassismusstrafnorm nicht anpassen. Das Urteil mache nur deutlich, dass die Schweizer Gerichte den Rassismus-Artikel zurückhaltend anwenden müssten.

Der Genfer SVP-Nationalrat Yves Nydegger, der selber als Anwalt in den Perincek-Prozess involviert war, verlangte in der Folge mit einem Vorstoss, die Rassismus-Strafnorm zu streichen – das Parlament lehnte das ab.

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