Über 100 Stufen führen hinauf zum Gerichtssaal des Bundesgerichts in Lausanne, vorbei an der wuchtigen Steinfassade mit den hohen Säulen, durch Sicherheitskontrollen wie am Flughafen, hinein in die hohen Marmorhallen.
Die Architektur schüchtert ein. Das sei kein Zufall, sagt alt Bundesrichter Hans Wiprächtiger: «Man will die Justiz als eine Macht darstellen, vor der die Bürgerinnen und Bürger Respekt oder gar Angst haben.» Angst, weil hier Entscheide fallen, die für die Betroffenen einschneidend sein können.
Wiprächtiger hat solche Entscheide getroffen, als einer von 38 Bundesrichtern, 22 Jahre lang, in der Abteilung Strafrecht – einer von fünf Abteilungen des Bundesgerichtes in Lausanne, zwei weitere sind in Luzern.
«In der Abteilung für Strafrecht verteilt der Präsident die Fälle, die tagtäglich hineinkommen den Richterinnen und Richtern, damit sie diese behandeln.» Bei ihm waren das ungefähr 400 Fälle pro Jahr, die er als hauptverantwortlicher Richter beurteilt hat, schätzt Wiprächtiger. Dazu kamen etwa 300 weitere pro Jahr als Mitrichter. Denn jeder Fall wird von mehreren Richtern angeschaut.
Bei der Beurteilung der meisten Fälle seien sich die Richter einig, sie würden einvernehmlich erledigt, so der alt Bundesrichter. Doch wenn sie sich in ihrer Beurteilung nicht einig sind, werden die Fälle in einer öffentlichen Sitzung beraten – und das sind dann meist jene Fälle, die zu reden geben.
Bundesrichter bestimmen somit auch, wie die Schweizer Politik umgesetzt wird; was geht, was nicht. Sie sind selbst aber auch abhängig von der Politik. Denn um überhaupt Bundesrichter zu werden, braucht es nebst viel Erfahrung und Kompetenz ein Parteibuch und die Wahl durch die Bundesversammlung.
Eine Wechselbeziehung also. Das sei gut so, meint Wiprächtiger, der selbst SP-Mitglied ist. «Das Volk soll auch vertreten werden in diesen Gerichten.» Das bedeute aber nicht, dass diese Richter parteipolitische Richter seien.
Richter müssen dem Druck standhalten
Der politische Druck auf das Bundesgericht habe in den letzten Jahren indes zugenommen; durch öffentliche Diskussionen über Urteile. Dieser Druck gehöre aber dazu: «Uns hat ein ehemaliger Präsident des Bundesgerichts immer gesagt, diesen Druck musst du aushalten, dafür bist du auch gut bezahlt.» Konkret beträgt der Richterlohn 355'000 Franken pro Jahr.
Durch die Selbstbestimmungs-Initiative stehen die Richter wieder unter Druck. Hans-Ueli Vogts Vorwurf, das Bundesgericht habe die Europäische Menschenrechtskonvention über die Bundesverfassung gestellt, sei falsch, sagt Wiprächtiger. Denn die EMRK spiele im Richteralltag – egal auf welcher Stufe – immer eine Rolle, und sie habe auch die Bundesverfassung mitgeprägt.
Hüter dieser Menschenrechtskonvention ist der Europäische Gerichtshof in Strassburg – die Instanz, welche Urteile des Bundesgerichtes allenfalls korrigieren kann. Das sei wichtig, sagt der alt Bundesrichter, denn: «Das Bundesgericht ist nicht Gott.» Das sei ein weiterer Grund, an der EMRK festzuhalten. Denn das System funktioniere, und das sei im Interesse aller.
Wenn schon etwas ändern, dann in Richtung mehr Transparenz, findet Wiprächtiger. Damit das Bundesgericht etwas von seinem abgeschotteten Image wegkomme und sich öffne. Und so die Bürgerinnen und Bürger besser nachvollziehen könnten, was hinter diesen dicken Mauern so alles vorgeht.