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Selbstbestimmungs-Initiative «Volk ist ein Verfassungsorgan, nicht Befehlshaber»

Im Abstimmungskampf um die Selbstbestimmungs-Initiative geht es insbesondere um die Menschenrechte. Die Gegner fürchten, dass die Schweiz aus der europäischen Menschenrechtskonvention austreten müsste. Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann versteht diese Befürchtung – aber auch die Kritik am Gerichtshof für Menschenrechte.

SRF News: Herr Diggelmann, die SVP will unser Bundesrecht über völkerrechtliche Verträge stellen. Wie beurteilen Sie die Selbstbestimmungs-Initiative?

Oliver Diggelmann: Nicht alles an der Analyse, die zu dieser Initiative geführt hat, ist falsch. Die Zunahme des Völkerrechts stellt für die staatlichen Demokratien tatsächlich ein Problem dar. Die Selbstbestimmungs-Initiative aber ist zu schlicht, sie löst das Problem der Verzahnung von Völkerrecht und staatlichem Recht eindeutig nicht.

Das Schweizer Bundesgericht hat 2012 entschieden, einen kriminellen Mazedonier nicht auszuweisen, obwohl die Schweiz die Ausschaffungsinitiative angenommen hatte. Zu Recht?

Ja. Das Bundesgericht legte das Ausländergesetz im Licht der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK aus und stufte eine Ausschaffung als unverhältnismässig ein. Der Mann, um den es im Urteil ging, lebte seit dem siebten Altersjahr in der Schweiz, wo er alle Schulen besucht hatte. Es sagte, der Ausschaffungsartikel in der Verfassung ist nicht direkt anwendbar, auch das ist juristisch auf jeden Fall vertretbar. Das Heikle an diesem Urteil war, dass es auch sagte, dass die EMRK auch dann Vorrang hätte, wenn die Verfassungsbestimmung direkt anwendbar wäre. Es äusserte sich zur Rangfrage, obschon dies gar nicht nötig war.

Die Zunahme des Völkerrechts stellt für die staatlichen Demokratien tatsächlich ein Problem dar.

Tatsächlich brachte dieses Urteil in den Augen der SVP das Fass zum überlaufen. Schliesslich sei das Schweizer Volk die oberste politische Instanz im Land.

Das Volk ist ein Verfassungsorgan von mehreren. Nicht Befehlshaber. Das ist ein wichtiger Unterschied, man sollte hier den zornigen Vereinfachern ruhig und besonnen entgegentreten. Auch das Volk sollte seine Aufgaben umsichtig und im Zusammenwirken mit anderen Verfassungsorganen wahrnehmen, dem Parlament und dem Bundesgericht. Das kluge Zusammenwirken der Verfassungsorgane stellt auch sicher, dass das Mehrheitsprinzip nicht zur Mehrheitsdiktatur wird.

Haben Sie sich noch nie über einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte EGMR geärgert?

Selbstverständlich habe ich das. Jedes Gericht fällt heikle Entscheide. Der EGMR sieht manchmal Menschenrechtsverletzungen, wo der Bezug zu fundamentalem Unrecht meiner Meinung nach fehlt, es war aber auch schon umgekehrt. Aber man muss die Proportionen sehen: 97 Prozent aller Beschwerden gegen die Schweiz werden vom EGMR sofort abgewiesen und gar nicht näher geprüft.

Die SVP wirft dem Gerichtshof für Menschenrechte vor, diese viel zu grosszügig auszulegen.

Ich habe für diese Kritik ein gewisses Verständnis. Man ist teilweise wohl zu weit gegangen, etwa bei Urteilen betreffend herumstreunenden Hunde und Vorgaben bei der Abfallentsorgung. Man kann mit guten Gründen finden, dass im Namen der Menschenrechte zu sehr ins Mikromanagement der Staaten eingegriffen wurde. Aber deswegen gleich das Ganze in Frage stellen?

Weshalb hat man die Menschenrechte mit der Zeit grosszügiger gefasst?

Ich sehe zwei Gründe. Der eine ist schlicht der Wandel der Zeit. Es sind neue Themen aufgetaucht: Fortpflanzungsmedizin, neue Überwachungsformen, neue Formen des Zusammenlebens. Der zweite Grund ist heikler. Menschenrechte kann man unterschiedlich verstehen. Für die einen sind sie Absicherungen des Elementarsten. Für andere sind sie auch Projektionsfläche für Vorstellungen einer gerechteren Welt, Hoffnungsträger nach dem Niedergang der sozialistischen Utopie. Man kann von einer gewissen Ideologisierung sprechen – wer sich als «Menschenrechtler» versteht, will tendenziell eher mehr davon.

Menschenrechte kann man unterschiedlich verstehen. Für die einen sind sie Absicherungen des Elementarsten. Für andere sind sie Projektionsfläche für Vorstellungen einer gerechteren Welt.

Manche denken, wenn man die Menschenrechte grosszügig interpretiert, sei das immer ein Fortschritt und etwas Gutes. Der Begriff klingt ja irgendwie nach höherer Gerechtigkeit. Das Konzept Menschenrechte wird aber unscharf, wenn man immer mehr an Uneindeutigem hineinpackt. Die Wucht geht verloren.

Reichen denn die Menschen- und Grundrechte in unserer Verfassung nicht aus?

Ich sehe dies im Grundsatz durchaus auch so. Die Schweiz wäre auch ohne EMRK ein Rechtsstaat. Ich möchte aber noch für einen etwas anderen Blick auf die EMRK plädieren. Könnten wir Loyalität gegenüber der Konvention nicht bis zu einem gewissen Grad auch als Ausdruck von Respekt dem gegenüber begreifen, was unsere Nachbarn in den letzten 70 Jahren in Europa aufgebaut haben? Ich frage mich manchmal, warum uns das so schwerfällt. Es gäbe ja Grund für Dankbarkeit für die Überwindung von Krieg und Verfolgung, die uns heute ein stabiles Leben ermöglicht. Vielleicht auch – ein grosses Wort in Zeiten des Zorns – für eine Spur Demut. Was sind dagegen ein paar missliebige Urteile?

Es gäbe Grund für Dankbarkeit für die Überwindung von Krieg und Verfolgung, die uns heute ein stabiles Leben ermöglicht.

Inwiefern profitieren wir vom EGMR?

Er weist uns auf rechtsstaatlich blinde Flecken hin, er ist aber auch für die jungen und instabilen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ganz wichtig, und die wiederum sind es für die Stabilität in Europa insgesamt. Sollte man für das grosse Ganze nicht ein paar Urteile schlucken, die einem nicht behagen? Ich meine ja.

Was wären die Konsequenzen für die Schweiz, wenn die Selbstbestimmungs-Initiative angenommen würde?

Man würde Sand oder gar Steine ins Getriebe des Rechtsstaats streuen. Das Grundproblem ist, dass man bei uns relativ leicht sehr spezifische und detailliert ausformulierte Anliegen in die Verfassung schreiben kann – mittels Volksinitiative. Die können dann mit internationalen Verträgen kollidieren, zu deren Respektierung wir uns verpflichtet haben.

Die Selbstbestimmungs-Initiative würde Sand oder gar Steine ins Getriebe des Rechtsstaats streuen.

Die Rechtsunsicherheit würde also zunehmen. Auch, weil die Initiative unklar formuliert ist: Im Initiativtext steht, bei einem Widerspruch zwischen Verfassung und Völkerrecht sei der Widerspruch auf Verhandlungswege zu beseitigen oder der Vertrag nötigenfalls zu kündigen. Es kommt also drauf an, wie man diese Begriffe Widerspruch und nötigenfalls versteht. Wie das Parlament das löst, kann man zum heutigen Zeitpunkt nicht sagen.

Oliver Diggelmann

Oliver Diggelmann

Professor für Völkerrecht

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OIiver Diggelmann lehrt an der Universität Zürich Völkerrecht, Öffentlichkeitsrecht und Staatsphilosophie. Neben Aufenthalten an Universitäten in Grossbritannien, den USA, Deutschland und Ungarn, war er persönlicher Mitarbeiter des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR.

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