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Session Die Geschichte vom bösen Wolf

Kaum zurück, soll der Wolf wieder verschwinden. Der graue Grenzgänger weckt in den Bergen jahrhundertealte Ressentiments. Für Städter verkörpert er Wildnis und Freiheitsdrang. Dabei war man lange geeint im Hass auf das Grossraubtier.

Es ist eine andere Schweiz als heute. Doch im 19. Jahrhundert bricht die Moderne mit lautem Getöse über das Land herein. Der Ressourcenhunger der Industrialisierung verschlingt ganze Wälder. Sie werden stehend verkauft und kahlgeschlagen.

In den Alpen schrumpft die Waldfläche auf die Hälfte des heutigen Bestandes. Raubbau wird man es später nennen, die Menschen von damals sehen es anders: Sie beenden die Willkürherrschaft der Natur und machen sie Untertan.

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Ihres Lebensraums beraubt und unkontrolliert bejagt sind Hirsch und Steinbock bis zur Mitte des Jahrhunderts ausgerottet; das Reh wird zum seltenen Gast in Schweizer Wäldern. In diesen Jahren verschwinden auch die letzten Wölfe. Mit knurrendem Magen oder einer Kugel im Kopf.

Ein Wolf mit der Schnauze im Schnee.
Legende: Kollateralschäden der Industrialisierung: Im 19. Jahrhundert verschwand das Wild – und mit ihm der Wolf. Keystone

Der Erbfeind des Menschen

1853 veröffentlicht der Naturforscher, Theologe und St. Galler Ständerat Friedrich von Tschudi sein Standardwerk «Das Tierleben der Alpenwelt». Das blühende Leben, das er beschreibt, ist eine ferne Erinnerung. Auch Tschudis Wolfsbild speist sich aus der Überlieferung – und es fällt vernichtend aus.

Der Wolf sei der «entschiedenste Gegner des Menschen und seiner Kulturbestrebungen» setzt Tschudi an. Und in «gar kalten Wintern drang er bis in die neueste Zeit in die grossen Städte vor und hat dort Mensch und Tier zerrissen.»

Überhaupt mangelt es dem «alten Mörder» an allem Schönen und Erhabenen: «Er ist widerlich und unanständig in seinen Manieren, boshaft, gierig, verschlagen, misstrauisch, gehässig in seinem Naturell, und unerträglich durch seinen abscheulichen Gestank.» Am Wolf geht die Fackel der Aufklärung vorbei. Für Bildungsbürger Tschudi bleibt er ein Dämon.

Wiebald man einem Wolf gewahr wird, schickt man Sturm über ihn.
Autor: Friedrich von Tschudi über die mittelalterlichen und neuzeitlichen Wolfsjagden

Ein Menschenfresser?

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Der Historiker Jean-Marc Moriceau belegt in einer Studie, dass in Frankreich zwischen 1400 und 1900 rund 9000 Menschen vom Wolf getötet wurden. Die meisten Angriffe waren auf Tollwuterkrankungen zurückzuführen. Aktenkundig sind Wolfsrudel, die, etwa im Dreissigjährigen Krieg (1618–48), den Heeren folgten und sich an den Gefallenen verköstigten.

Und er wird erbittert bekämpft. Die obrigkeitlichen Jagdordnungen gaben der «Landplage» keine Schonfrist. Denn der graue Räuber war eine existenzielle Bedrohung für Schafe und Bauern. Wolfsrudel konnten, gerade in den Wintermonaten, das Überleben ganzer Dörfer gefährden.

Volkssport Wolfsjagd

Vor der Erfindung moderner Präzisionsgewehre war bei der Wolfsjagd Kreativität gefragt. Schon im frühen Mittelalter verendeten Wölfe qualvoll an köderbesetzten «Wolfsangeln». Andere wurden mit Schweineresten in metertiefe Gruben gelockt oder bei Treibjagden aufgespiesst.

Vom Vordach des Davoser Rathauses grinsten einst dreissig Wolfsköpfe herunter; für das Wallis sind üppige Prämien für jeden erschossenen Wolf belegt. Während der Hexenverfolgung richtete sich die Wolfs-Manie auch gegen den Menschen. 1623 wurde die Solothurner «Werwölfin» Elsbeth Loyne dem reinigenden Feuer übergeben – sie war eine von vielen.

Aus den Augen, in die Sinne

Doch erst die industrielle Vernichtung seiner Jagdgründe macht dem Wolf den Garaus. Und mit jedem gefällten Baum werden Geister vertrieben, eine mystisch aufgeladene Welt entzaubert: ein Exorzismus. Doch im dunklen, dunklen Wald hat sich ein Rest unzähmbare Natur bewahrt. Und sie lässt die Menschen schaudern: der böse, böse Wolf. Der Graue wandert ins Reich der Phantasie.

Das tief ins Mittelalter zurückreichende Volksmärchen vom Rotkäppchen porträtierte den Wolf als verschlagenen Kinderfresser – und Symbol für das Triebhafte, Animalische. Die Horrorliteratur des ausgehenden 19. Jahrhunderts nimmt das Motiv, und mit ihm den Werwolf, dankbar auf. Der Wolf bleibt, auch als Fiktion, Sinnbild des Bösen.

Erst die Vermarktungsmaschinerie des 20. Jahrhunderts macht das Grossraubtier salonfähig. Hermann Hesse lässt den freiheitsgierigen «Steppenwolf» von der Leine; die Hippies folgen seinen Spuren. In den Kinosälen tanzt Kevin Costner mit dem Wolf; die Zuschauer schunkeln selbstvergessen mit.

Männersache

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Die meisten Wölfe zieht es aus den italienischen und französischen Alpen nach Graubünden und ins Wallis. Vereinzelte Sichtungen gab es auch nördlich der Alpen. Meist handelt es sich bei den Einwanderern um Rüden. Sie zieht es eher in die weite Welt. Im Wallis könnte sich jedoch bald, wie am Bündner Calanda-Massiv, ein Rudel bilden.

Urängste und Willkommenskultur

Mitte der 1990er-Jahre verirrt sich der Posterboy der Popkultur wieder in die Schweiz. Es ist ein böses Erwachen. Der Talboden hat sich in ein touristisches Eldorado verwandelt. Die Jagd- und Rückzugsgebiete in den Bergen sind sorgsam gepflegten Kulturlandschaften gewichen. Ein Kulturschock für den einsamen Wolf.

Einen «Naturschock» erleiden Schafzüchter und ihre Fürsprecher. Bei manchen kehren jahrhundertealte Ressentiments zurück: «Bereits ein Schaf ist ethisch, emotional und ökologisch wertvoller als ein Wolf» schreibt ein Wolfsgegner im Wallis. Andere belassen es nicht bei Worten: 1998 wird ein geschossener Wolf im Goms vor eine Kadaversammelstelle gelegt. Monate später wird sein Bruder – offenbar unabsichtlich – auf dem Simplon von einem Schneepflug überrollt.

Im Flachland ist die Empörung gross. «Mörder!», schreit eine urbane Öko-Bewegung – und erhebt den Wolf zum Vorkämpfer in eigener Sache: Er soll, stellvertretend für die müde modernisierten Städter, die verlorene Wildnis zurückholen. Ein bisschen Chaos in einer überregulierten Welt.

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