Heute Donnerstag musste sich ein 56-jähriger Priester vor dem Geschworenengericht in Lugano wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Minderjährigen sowie urteils- oder widerstandsunfähigen Personen verantworten.
Der Gerichtsfall weckt auch deshalb über die Kantonsgrenzen hinweg grosses Interesse, weil es einer der ersten Prozesse in der Schweiz gegen einen katholischen Geistlichen ist, bei dem die mutmasslichen Taten noch nicht verjährt sind.
Was wird dem Priester zur Last gelegt?
Der 56-Jährige soll zwischen 2015 und 2023 neun Jugendliche sexuell genötigt und sich an ihnen vergangen haben. Vier der Opfer waren minderjährig. Das Jüngste war noch nicht einmal 13 Jahre alt. Zudem soll er vermehrt Kinderpornografie konsumiert haben. Der Angeklagte habe in vollem Bewusstsein gehandelt, sagte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Er habe den Jungen Entspannungsmassagen angeboten und sich so an ihnen vergangen. Als besonders stossend hob die Anklage einen Fall hervor. Ein Jugendlicher, knapp über 20 Jahre alt, gestand gegenüber dem Priester, dass er schwul sei. Der Priester bot ihm an, ihn von seiner Homosexualität zu heilen, gleichzeitig massierte er ihn im Genitalbereich und einmal verging er sich an ihm im Schlaf.
Wie ist der Geistliche vor Gericht aufgetreten?
Der 56-Jährige wirkte während des ganzen Prozesses im Saal äusserst ruhig und unauffällig. Er beantwortete die Fragen des Richters emotionslos. Er sagte Sätze wie: Er habe diese Entspannungsmassagen angeboten, heute wisse er, dass er selbst auf der Suche nach einer Massage war. Oder er sei fehlgeleitet gewesen, er wisse, dass er Hilfe brauche, deshalb habe er sich bereit erklärt, eine ambulante Therapie zu machen. Dies forderte auch die Staatsanwaltschaft. Der Angeklagte tat sich vor allem selber leid. Bei den über zweistündigen Plädoyers von Anklage und Verteidigung hatte der angeklagte Priester die Augen geschlossen. Es schien, als würde er beten. Ganz am Schluss bat er bei den Eltern der Opfer, den Opfern selbst und bei der Kirche um Vergebung. Er schäme sich.
Wer ist der angeklagte Priester?
Er war nicht irgendein normaler Pfarrer. Der 56-Jährige war Kaplan des Collegio Papio in Ascona – einer katholischen Mittelschule – und er war der höchste Zuständige für den katholischen Religionsunterricht im Kanton Tessin und zudem noch Jugendseelsorger. In dieser Funktion hat er regelmässig Gruppenreisen mit Jugendlichen gemacht, sogenannte Besinnungs- und Gebetsreisen.
Wie wurden die Übergriffe publik?
Einer der neun missbrauchten Jugendlichen meldete sich im Februar 2024 direkt bei der Kirche beim Bischof von Lugano, Alain de Raemy. Der Bischof schaltete daraufhin die zuständige kirchliche Fachkommission für Missbrauchsfälle ein. Im April reichte der Betroffene schliesslich Strafanzeige ein. Anschliessend geschah fast vier Monate nichts. Der Priester blieb weiter im Amt und konnte sogar eine weitere Pilgerreise mit Jugendlichen durchführen, auch die Staatsanwaltschaft reagierte vorerst nicht. Man habe den Priester nicht suspendiert, weil man nicht Beweise gefährden wollte, erklärte die Kirche gegenüber Tessiner Medien. Besonders brisant: Gemäss der Zeitung «La Regione» soll derselbe junge Mann bereits 2021 dem damaligen Bischof – dem Vorgänger von de Raemy – erzählt haben, er sei vom Angeklagten belästigt worden. Passiert ist nichts. Erst im August letzten Jahres – drei Jahre nach der erstmaligen Meldung – wurde der Priester von der Polizei verhaftet.