Die Vorwürfe gegen einen Tessiner Priester wiegen schwer: sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, sexuelle Handlungen mit urteilsunfähigen oder widerstandsunfähigen Personen, Pornografie. Anzeige erstattet hat das Bistum Lugano, in welchem der Angeschuldigte für den Religionsunterricht von Kindern und Jugendlichen an verschiedenen Tessiner Schulen zuständig war.
Trotz dieses proaktiven Handelns wirft der Fall Fragen auf. Denn: Zwischen dem Zeitpunkt der Anzeige und der Verhaftung liegen rund vier Monate. In dieser Zeit konnte der Priester seiner Arbeit als Religionslehrer nachgehen. Am Tag vor seiner Verhaftung ist er aus einem Lager aus Kroatien mit Tessiner Jugendlichen zurückgekehrt. In einer Pressemitteilung des Bistums Lugano heisst es: «Um die Wahrheitsfindung nicht zu verhindern und die Vertuschung von Beweisen zu vermeiden, wurden in der Zeit zwischen der Anzeige und der Verhaftung keine Massnahmen gegen den Priester ergriffen.»
Aber: Wäre es nicht möglich gewesen, die Verhaftung vor dem Lager durchzuführen? Hatte die Staatsanwaltschaft Kenntnis von der bevorstehenden Reise?
Staatsanwaltschaft hält sich bedeckt
Das Bistum Lugano will wegen laufender Ermittlungen keine Stellung nehmen. Genauso wenig die Tessiner Staatsanwaltschaft.
Unverständnis über dieses Vorgehen aber gibt es innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Nicole Büchel, Kommunikationsdelegierte der Schweizer Bischofskonferenz, sagt: «Ich glaube, es wäre allen gedient gewesen, wenn die Situation noch vor dem Lager hätte geklärt werden können. Das ist sicher der Punkt, der am meisten Kritik aufruft und das kann ich sehr gut verstehen. Was die Gründe dafür sind, dass man bis nach dem Lager abgewartet hat, kann ich nicht beurteilen. Es müssten schwere ermittlungstechnische Gründe gewesen sein. Weil sonst wird das schwierig zu rechtfertigen.»
Kleinräumigkeit des Tessins hemmt Opfer
Als im letzten Herbst die Studie der Universität Zürich schweizweit über 1000 Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche seit den 1950er-Jahren aufzeigte, fiel der Kanton Tessin durch seine tiefen Fallzahlen auf. Das hat auch strukturelle Gründe. Büchel sagt dazu: «Ich gehe schwer davon aus, dass es auch eine andere Mentalität ist, vom Katholizismus, von der Kultur im Tessin. Und dass vielleicht auch diese Kleinräumigkeit hemmt, sich zu melden. Man muss sich bewusst sein: Ein Opfer, das sich meldet, öffnet sich mit seiner Geschichte auch mit seiner ganzen Verletzlichkeit.»
Diese Beobachtung hat auch die RSI Journalistin Francesca Luvini gemacht, die einen Film über dieses Thema gemacht hat. Sie beschreibt die Situation im Tessin so: «Bist du nicht mein Cousin, bist du der Cousin meines Mannes.» Dass in den letzten Jahren durch den Druck der Öffentlichkeit auch im Tessin ein Paradigmenwechsel in der Aufarbeitung stattgefunden hat, da sind sich Luvini und Büchel einig.
Aber der Wandel ist zögerlich angelaufen. Und der aktuelle Fall zeigt, dass transparente Kommunikation noch keine Selbstverständlichkeit ist.