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Solidaritätsbeiträge Entschädigung von Verdingkindern: Schweiz als Vorbild

Die Schweiz hat mit der Aufarbeitung fürsorgerischer Fremdplatzierung und Opferentschädigung Pionierarbeit geleistet.

Als Lydia Bucher 12 Jahre alt war, kam sie zu einer Bauernfamilie. Aber nicht etwa, weil diese sich ein Kind wünschte und die Halbwaise als Tochter aufnehmen wollte. Nein, Bucher musste sich ihren Lebensunterhalt verdienen: «Ich war ein Knecht und musste arbeiten wie ein ausgewachsener Mann», erzählt sie.

Ehemaliges Verdingkind sitzt auf einer Schulbank und schreibt.
Legende: Aufnahme eines Verdingkinds aus dem Jahre 1945: Rund 20'000 Menschen sind im letzten Jahrhundert in der Schweiz Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen geworden. Keystone/PHOTOPRESS-ARCHIV/STR

Von elterlicher Zuneigung keine Spur: Sie sei beschimpft worden, und man habe ihr den Kontakt zu den eigenen Geschwistern verboten. Der Bauer habe sie auch anderen Bauern «ausgeliehen», die sie sexuell missbraucht hätten.

Ein «Pionierschritt» der Schweiz

Lydia Buchers Schicksal ist schlimm – aber leider kein Einzelfall. Bis 1981 wurden in der Schweiz fremdplatzierte Kinder als billige Arbeitskräfte missbraucht, häufig misshandelt und nicht selten sexuell ausgebeutet.

Jeder, der sagen kann, dass er in einer Zwangsanstalt war, ist automatisch auch Opfer.
Autor: Helen Keller Rechtsprofessorin

Auf Initiative eines ehemaligen Heimkindes – des heutigen Unternehmers Guido Fluri – führte die Schweiz eine europaweit einzigartige Lösung ein: Nicht nur erkennt sie in einem Gesetz das geschehene Unrecht an und arbeitet die Geschehnisse wissenschaftlich auf, sie zahlt den Opfern auf Gesuch hin auch einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken.

Guido Fluri.
Legende: Lancierte 2014 erfolgreich die Wiedergutmachungsinitiative: Guido Fluri. Keystone/ ALESSANDRO DELLA VALLE

«Das ist ein Pionierschritt der Schweiz», sagt Rechtsprofessorin Helen Keller von der Universität Zürich. Die Schweiz habe eine einfache und schrankenlose Lösung gefunden: «Jeder, der sagen kann, dass er in einer Zwangsanstalt war, ist automatisch auch Opfer.»

Das hat den Vorteil, dass die Opfer keinen Gerichtsprozess gegen den Staat führen, keinen Schaden beweisen und keine Verjährungsfristen beachten müssen. Auch müssen die Opfer nicht fürchten, dass Gemeinden, Kantone oder Kirchen sich gegenseitig die Haftung zuschieben.

Geld bedeutet Anerkennung des Leids

Laut Susanne Kuster, die als stellvertretende Direktorin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements für das Aufarbeitungsgesetz zuständig ist, gibt es nicht eine einzige Lösung für alle. «Jeder Staat muss seinen eigenen Weg finden, wie er mit dem institutionellen Versagen umgehen soll.» Wichtig sei aber, die Betroffenen mit einzubeziehen.

Das Besondere an der Schweizer Lösung sei nämlich, dass sie das Ergebnis eines intensiven Dialogs auf Augenhöhe zwischen Betroffenen und Behörden sei. «Der Prozess wurde nicht von oben lanciert und diktiert, sondern es waren Betroffene, die den Mut dazu aufgebracht haben.» Betroffene wie Guido Fluri und Lydia Bucher.

Letztere ist trotz ihres Schicksals nicht verbittert. Sie ist zufrieden damit, was sie im Leben – trotz der schwierigen Startbedingungen – erreicht hat. Anderen Opfern, die mit administrativen Dingen weniger gut zurechtkommen, hat sie beim Gesuch für den Solidaritätsbeitrag geholfen. Als das Geld vom Staat kam, hätten ihr viele gesagt: «Das ist für mich wie ein Freispruch.»

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SRF 4 News, 26.01.2024; 18 Uhr;kobt

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