Am Anfang war das Dilemma. Nach den Gräueln des Ersten Weltkriegs entstand mit dem Völkerbund eine neue Friedensordnung. Die Schweiz wollte mitmachen – und trotzdem neutral bleiben. Denn die Neutralität wurde vor dem Ersten Weltkrieg zum Kitt der Eidgenossenschaft, zwischen der Westschweiz und der Deutschschweiz.
«Die Deutschschweizer waren damals sehr für die Mittelmächte», erklärt Sacha Zala, Geschichtsprofessor und Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis). «Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. 1912 im Rahmen eines Staatsbesuchs nach Zürich und Bern kam, flippte die Bevölkerung regelrecht aus.»
Den Krieg eindämmen, Friedensbrecher bestrafen: Das war die Idee des Völkerbundes. Dieser sah vor, Staaten, die ein anderes Land überfielen, mit Sanktionen zu belegen – wirtschaftlichen, aber auch militärischen. Die Schweiz konnte und wollte beim Völkerbund mit Sitz in Genf nicht abseitsstehen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Zürcher Jurist Max Huber.
Huber wurde 1919 beauftragt, eine Botschaft des Bundesrats ans Parlament zu verfassen. «Darin sollte er erklären, wie man neutral, aber doch ein Teil des Systems der kollektiven Sicherung sein kann», führt Zala aus. «Diese Frage sollte auch geklärt werden, um das Land zusammenzuhalten.»
Kunststück der Schweizer Diplomatie
Huber unterschied zwischen dem starren Neutralitätsrecht – also keine militärischen Strafaktionen mittragen – und der flexiblen Neutralitätspolitik. Sprich: Wirtschaftssanktionen können übernommen werden. Überraschenderweise akzeptierte dies der Völkerbund. Obwohl dieser festhielt, die Neutralität sei nicht vereinbar mit der Idee des Völkerbundes.
«Damit hat die Schweizer Diplomatie das Kunststück vollbracht, die Mächte des Völkerbundes davon zu überzeugen, dass die Schweiz nur wirtschaftliche Sanktionen mittragen muss – aber nicht militärische», sagt Zala.
Das führte dazu, dass der Völkerbund den Sonderfall Schweiz schuf. Dieses Konstrukt hielt man aufrecht bis 1938, also bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Da rief der Bundesrat die Rückkehr zur «integralen Neutralität» aus, die es so zuvor aber gar nie gab: Die Schweiz konnte Geschäfte mit Nazi-Deutschland wie auch mit den Alliierten abschliessen. Offiziell blieb diese integrale Neutralität bis zum Ende des Kalten Krieges bestehen.
Die Kehrtwende von 1990
Inoffiziell schloss man sich aber den Sanktionen des Westens gegen die Sowjetunion ab den 1950er-Jahren an. Erst 1990 gab es eine Kehrtwende. Der Irak unter Saddam Hussein überfiel Kuwait. Der Bundesrat entschied, die UNO-Sanktionen gegen den Irak zu übernehmen. Militärisch hingegen blieb man abseits.
Starres Neutralitätsrecht fürs Militärische und flexible Politik: Im Grundsatz gilt dieses Konstrukt bis heute. Über Jahrzehnte hat sich die Schweiz so ein Neutralitätskorsett geschneidert wie kein anderes Land. «Die Verrechtlichung der Neutralität, wie sie die Schweiz konstruiert hat, ist ein Zeichen dafür, wie fragil das Gebilde ist», schliesst Historiker Zala.
Die Neutralität ist also fragil, gerade aktuell. Denn angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine verstehen die westlichen Staaten das starre Neutralitätsrecht der Schweiz nicht mehr. Die Ukraine ist Opfer des russischen Angriffskrieges geworden. Ihr soll geholfen werden. Auch militärisch. Das bringt die Schweiz wieder in ein Dilemma.