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Die langjährige Glarner Jugendanwältin Vreni Hürlimann tritt ab
Aus Regionaljournal Ostschweiz vom 03.12.2021. Bild: Keystone
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Straffällige Jugendliche Glarner Jugendanwältin: «Man kann nicht jeden retten»

Sie trat ihr Amt Ende der 1990er-Jahre an und betreute seither rund 4800 Jugendliche, die straffällig geworden waren. Nun geht die langjährige Glarner Jugendanwältin Vreni Hürlimann in Pension. Jugenddelikte und die Situationen der Jugendlichen hätten sich verändert, erzählt sie im Interview.

Vreni Hürlimann

Vreni Hürlimann

Langjährige Jugendanwältin im Kanton Glarus

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Die Glarner Juristin, Anwältin und Notarin Vreni Hürlimann amtete 23 Jahre lang als Leitende Jugendanwältin und prägte das Jugendstrafwesen im Kanton Glarus massgeblich. Hürlimann ist Gründerin und Partnerin einer Anwaltskanzlei und sie hat ein Wohnprojekt für Jugendliche mitaufgebaut.

SRF News: Vreni Hürlimann, was hat Sie vor 23 Jahren beschäftigt, als Sie in Glarus als Jugendanwältin anfingen?

Damals spürten wir vor allem die Nachwehen vom Platzspitz in Zürich. Es gab Jugendliche, die immer noch da herumhingen und völlig verwahrlost waren. Es gab aber auch die üblichen Bagatelldelikte.

Sie betreuen Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren. Haben sich die Jugenddelikte in all den Jahren verändert?

Ja, ich denke schon. Nach den Platzspitz-Jugendlichen kamen die Balkan-Flüchtlinge, die einen Krieg miterlebt und teils schwer traumatisiert waren. Da kam auch viel Gewalt mit. Seit rund fünf Jahren habe ich es vermehrt mit Schulschwänzern zu tun. Diese Jugendlichen sind oft verwahrlost, man bringt sie kaum aus dem Bett, weil sie die ganze Nacht Videospiele spielen. Irgendwann werden sie straffällig. Die Eltern können ihnen keine Grenzen setzen, auch, weil sie es vielleicht früher nie getan haben.

Die ganz grossen Delikte hatten wir im Kanton Glarus nicht.
Autor: Vreni Hürlimann Abtretende Jugendanwältin im Kanton Glarus

Ganz generell: Wie gehen Sie vor, wenn Sie mit straffälligen Jugendlichen zu tun haben?

Zuerst schaue ich mir immer den Polizeirapport an. Dann entscheide ich, ob ich den Jugendlichen oder die Jugendliche vorlade. Das mache ich in etwa 80 Prozent der Fälle. Ich muss wissen: Wo steht die Person im Leben? Was hat sie für Probleme? Erst wenn ich ein Gesamtbild habe, entscheide ich, ob ich eine Strafe oder eine Massnahme ausspreche. Bei letzterem ziehe ich dann auch die Sozialarbeitenden bei, führe Gespräche mit den Eltern, allenfalls ist eine Familientherapie nötig. Es kann sein, dass mich ein eigentlicher Bagatellfall viel länger beschäftigt, als eine einmalige Dummheit, die halt einen Schaden von 30'000 Franken angerichtet hat.

In den letzten Jahren haben Sie im Schnitt pro Jahr 120 bis 180 Jugendliche betreut. Welche Delikte waren Klassiker?

Mit kiffenden Jugendlichen hatte ich immer wieder zu tun. Aber auch Sachbeschädigungen oder Ladendiebstähle kamen regelmässig vor. Irgendwann kamen die ganzen Pornografie-Geschichten. Im Grundsatz sind die nicht so tragisch, aber man macht sich schnell massiv strafbar, wenn man ein falsches Bild verschickt. Etwa solche, auf denen sexuelle Handlungen mit Tieren, Kindern oder Gewalt abgebildet sind. Die ganz grossen Delikte hatten wir im kleinen Kanton Glarus aber nicht.

Jugendliche haben knapp 8000 Delikte verübt

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Die Zahl der Jugendstrafurteile in der Schweiz ist im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr um 23 Prozent gestiegen. Insgesamt sind es knapp 8000 Delikte, die unter das Strafgesetz fallen.

Besonders stark zugenommen haben der sogenannte Raufhandel (+93 Prozent), schwere Körperverletzung (+35 Prozent), Angriffe (+36 Prozent) und Raub (+58 Prozent).

Ebenfalls zugenommen hat die Zahl der Sexualstraftaten bei Jugendlichen (+20 Prozent). Die Zahl der Urteile wegen Betäubungsmittelkonsums ist hingegen gesunken (-18 Prozent).

Quelle: BFS, Jugendurteile und -sanktionsvollzug im Jahr 2020

Sie sprechen die Kleinräumigkeit an – hatte sie Vorteile?

Absolut. Ich konnte mir schnell einen Überblick verschaffen und die Jugendlichen lernten mich rasch kennen. Sie wussten, dass ich nicht einfach zuschaue und dass ein gewisses Verhalten Konsequenzen hat. Man läuft sich aber auch immer wieder über den Weg. Sei es, weil manche Jugendliche wieder straffällig wurden. Oder, weil sie teils Jahre später auf mich zukamen, um mir zu danken: «Mit Ihrer Hilfe habe ich es geschafft». Das waren die schönsten Erlebnisse als Jugendanwältin. Mein Ziel war ja immer, die Jugendlichen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Oder ihnen mindestens eine Perspektive für die Zukunft zu geben.

Wie gingen Sie mit Fällen um, in denen Hopfen und Malz verloren waren?

Man muss den Mut haben, die Betroffenen fallen zu lassen. Entweder schaffen sie es trotzdem. Oder sie landen irgendwann im Erwachsenenstrafrecht. Man kann nicht jeden Jugendlichen retten. Das wäre toll, aber es geht leider nicht.

Das Gespräch führte Christian Masina.

Regionaljournal Ostschweiz, 3.12.21, 17:30 Uhr;

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