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Strassburg rügt die Schweiz Rechtsexperte: «Witwenrente kommt unter Druck»

Nun ist es endgültig. Das AHV-Gesetz diskriminiert Schweizer Witwer. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden . So hat das Gericht die Praxis, wonach der Anspruch für Väter auf die Witwerrente erlischt, sobald das jüngste Kind volljährig ist, als widerrechtlich taxiert. Bei Frauen dauert dieser Anspruch bis ans Lebensende.

Das Urteil wirft Fragen auf. Wie geht die Schweiz mit dem Strassburger Urteil um? Wieso reagierte nicht bereits das Bundesgericht auf die Ungleichbehandlung? Thomas Gächter, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, ordnet ein.

Thomas Gächter

Professor für Sozialversicherungsrecht

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Seit 2006 besetzt Thomas Gächter den Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich. Ausserdem ist er Gastprofessor für Sozialversicherungs- und Gesundheitsrecht an der Universität Luzern.

SRF News: Thomas Gächter, war die unterschiedliche Behandlung von Witwen und Witwer eine Diskriminierung?

Thomas Gächter: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn nur weil zwei Dinge unterschiedlich gehandhabt werden, muss das juristisch gesehen nicht zwingend eine Ungleichbehandlung oder gar Diskriminierung darstellen. Die Argumentation des Bundesgerichts war, dass die Witwen und Witwer unterschiedliche Lebenssituationen hätten, sprich Schweizer Mütter in der Gesellschaft benachteiligt werden und daher eine Bevorteilung bei der Witwenrente verdienten.

Strassburg sagt: Es gibt keinen sachlichen Grund, weshalb Witwer und Witwen unterschiedlich behandelt werden sollten.

Strassburg sieht dies anders und sagt: Es gibt keinen sachlichen Grund, weshalb Witwer und Witwen unterschiedlich behandelt werden sollten. Der EGMR widerspricht also auch dem traditionellen Bild, wonach der Mann der Haupternährer einer Familie ist und ihm zugetraut wird, nach dem Tod der Frau den Lebensunterhalt zu verdienen. Das Schweizer AHV-Gesetz verletzt also das Diskriminierungsverbot.

Das Urteil scheint nicht aus der Luft gegriffen. Weshalb hatte nicht bereits das Bundesgericht so entschieden?

Dazu muss man verstehen, dass das Bundesgericht nicht in erster Linie dazu vorgesehen ist, Gesetze auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen. Im vorliegenden Fall hat es nur eine bewährte Praxis angewendet.

Wenn das Gericht der Meinung ist, dass das Gesetz im Einklang mit dem Völkerrecht interpretiert werden kann oder dass der Gesetzgeber einen Völkerrechtsbruch bewusst in Kauf nimmt, wendet es das Landesrecht an. In diesem Fall war für das Bundesgericht also das AHV-Gesetz massgebend.

Das Bundesgericht und der EGMR entscheiden fast immer gleich

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist sozusagen der Hüter der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Zu betonen gilt hier, dass das Gericht kein Organ der Europäischen Union, sondern des Europarats ist.

Die Schweiz ist seit 1963 Mitglied des Europarats. Die EMRK ratifizierte die Schweiz allerdings erst 1974. Dies lässt sich vor allem auch damit erklären, dass das fehlende Stimm- und Wahlrecht für Frauen in der Schweiz damals noch nicht Tatsache war – ein klarer Bruch der EMRK.

Der EGMR urteilt in der Regel allerdings gleich wie das Schweizer Bundesgericht. Staatsrechtsexpertinnen und Völkerrechtsgelehrte gehen davon aus, dass der Europäische Gerichtshof, in welchem auch die Schweiz vertreten ist, in maximal zwei Prozent der Fälle anders entscheidet.

Nennenswert ist hier etwa ein EGMR-Entscheid aus dem Jahr 2014 . Damals hielt der Gerichtshof fest, dass die Familie eines Arbeiters einer Maschinenfabrik, welcher mit Asbeststaub in Berührung kam und später an Brustfellkrebs starb, Anspruch auf Schadenersatz hatte. Das Bundesgericht hatte die Beschwerde wegen Verjährung noch abgewiesen.

Waren dem Bundesgericht also die Hände gebunden?

Es hätte durchaus mutiger entscheiden können. Nur tut es das nur, wenn es davon ausgeht, dass wirklich ein eklatanter Bruch von Völkerrecht vorliegt. Dies war nicht der Fall. Vielmehr wäre es die Aufgabe des Parlaments gewesen, das Gesetz zu ändern. So gesehen kann man das Urteil aus Strassburg nicht nur als Zurechtweisung des Bundesgerichts, sondern auch des Parlaments verstehen.

Also musste wegen der eher schwachen Stellung des Bundesgerichts und der Ergebnislosigkeit aus dem parlamentarischen Prozess der EGMR die Sache endgültig beurteilen?

Das kann man so sagen, und es ist auch etwas unangenehm, wenn ein ausländisches Gericht in einer solchen Sache endgültig urteilt. Ich will aber festhalten: In praktisch allen Fällen entscheidet der EGMR gleich wie das Schweizer Bundesgericht.

Für mich ist denkbar, dass langfristig nicht die Witwerrenten gestärkt, sondern die Witwenrenten gekürzt werden.

Interessant wird, was der Entscheid auslöst. Auf kurze Sicht werden die Witwerrenten ausbezahlt, man geht von einem Kostenpunkt von rund 12 Millionen Franken jährlich aus. Langfristig sehe ich allerdings die Hinterlassenen-Leistungen als Ganzes und somit auch die Witwenrente unter Druck. Für mich ist denkbar, dass langfristig nicht die Witwerrenten gestärkt, sondern die Witwenrenten gekürzt werden.

Das Gespräch führte Pascal Studer.

Echo der Zeit, 18:00 Uhr, 11.10.2022 ; 

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