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Studie über Beruhigungsmittel Die stille Epidemie im Tessin

Das Leben in Deutschschweizer Städten ist hektischer als im Tessin. Umso erstaunter war ein Tessiner Mediziner, als er herausgefunden hat, dass die Menschen im Tessin doppelt so viel Beruhigungsmittel verwenden wie auf der anderen Seite des Gotthards. Der Arzt spricht von einer heimlichen Epidemie, die seit Jahren fast unbemerkt im Süden grassiert.

Die Zahlen sprechen Bände, sagt Luca Gabutti, Leitender Arzt für innere Medizin im Spital von Bellinzona: « Wir haben in unserer Studie hier in den Tessiner Spitälern herausgefunden, dass rund jeder dritte Patient, zuhause, im Alltag Benzodiazepine nimmt, also Beruhigungsmittel. Sie brauchen diese Mittel gegen Angstzustände und um besser schlafen zu können».

Am meisten zu solch verschreibungspflichtigen Beruhigungsmitteln greifen Personen zwischen 50 und 65 Jahren. Dieses Forschungsergebnis von Gabutti deckt sich mit aktuellen Zahlen aus der nationalen Krankenkassenstatistiken.

Grosse gesellschaftliche Akzeptanz

Wie aber erklärt sich der Mediziner, dass vor allem Tessiner und Tessinerinnen derart viele Beruhigungsmittel verwenden? «Sagen wir es so, ich teile zu einem gewissen Teil die Begründung, die mir eine Frau anonym geschrieben hat: Frauen würden mehr unter Druck stehen, sei es an der Arbeit oder in der Familie.»

Einen weiteren Grund für den massiven Konsum von Beruhigungsmitteln sieht Gabutti darin, dass die gesellschaftliche Akzeptanz solcher Medikamente sehr gross ist. «Ich frage die Patienten immer, wie kommt es, dass sie diese Medikamente nehmen: Oh, eine Freundin, eine Nichte hat sie mir empfohlen. Ich habe dann dem Arzt gesagt, er solle sie mir auch verschreiben.»

Präventionskampagne zeigt Wirkung

Chefarzt Gabutti und seine Kollegen haben in den Tessiner Spitälern eine Präventionskampagne gestartet. Ängstlichen Patienten im Spital den Mutmacher auszureden, wie geht das? «Es ist sehr schwierig», so Gabutti. «Viele Patienten haben Angst, allein schon davor, mit Unbekannten im selben Zimmer zu schlafen. Trotzdem sagen wir ihnen immer wieder, dass diese Medikamente sehr viele Nebenwirkungen haben. Sie machen sehr schnell abhängig. Sie erhöhen die Sturzgefahr, oder die Gefahr im Verkehr zu verunfallen.»

Diese vor kurzem eingeleiteten Präventionsmassnahmen zeigten bereits Wirkung. In Tessiner Spitälern würden 15 Prozent weniger Beruhigungsmittel verschrieben – dafür mehr homöopathische Präparate. Und ausserhalb der Spitäler gebe es Arbeitsgruppen mit dem Kantonsapotheker, Behördenvertreten und den Hausärzten.

«Thematik wird tabuisiert»

«Das Problem ist jetzt im Tessin erkannt», sagt Gabutti. Eine breite Verhaltensänderung aber sei nicht von heute auf morgen zu erwarten. Das bestätigt auch die Mediensprecherin der Stiftung Suchtschweiz, Monique Portner.

Dass im Tessin aktiv gegen das Tabu der Beruhigungsmittelsucht vorgegangen wird, sorgt für Freude in der Deutschschweiz. Konkret bei der Stiftung Suchtschweiz, Mediensprecherin Monique Portner: «Es ist tatsächlich so, dass die Sensibilisierung für diese Thematik fehlt. Sie wird tabuisiert.» Fachleute sprechen darum von der «stillen Sucht». Und die gibt es nicht nur im Tessin.

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