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Suizid eines Angehörigen «Hinterbliebenen wird der Boden unter den Füssen weggezogen»

Mehr als 1000 Menschen nehmen sich jährlich in der Schweiz das Leben. Für die Hinterbliebenen ist der Suizid eines Angehörigen ein traumatisches Erlebnis. Jörg Weisshaupt leitet mehrere Gruppen von Hinterbliebenen. Wie diese Menschen mit ihrem Trauma umgehen, erklärt er im Interview.

SRF News: Sie initiierten mehrere Selbsthilfegruppen für Suizidhinterbliebene. Welche Fragen beschäftigen Suizidhinterbliebene?

Jörg Weisshaupt: Die Schuldfrage ist zentral. Warum konnte ich den Suizid nicht verhindern? Dass sich Hinterbliebene diese Frage stellen und sich Vorwürfe machen, entspringt oft einem Schuldgefühl, das sich bei einer rationalen Überprüfung kaum bestätigen lässt. Denn Menschen mit Suizidabsichten teilen diese Absichten in der Regel nicht mit anderen Menschen – somit kann sich auch niemand einen Vorwurf machen. Auch die Frage nach dem «Warum» beschäftigt Hinterbliebene oft jahrelang. Auch hier gibt es keine abschliessenden Antworten. Deshalb ist es umso wichtiger, dem Ereignis einen Platz im Leben zu geben und Perspektiven für das Leben danach zu finden.

Normalerweise dauert es Jahre, bis sich betroffene Personen Hilfe suchen, um über das Ereignis zu sprechen.

Wenn sich der eigene Vater umbringt, ist es aber äusserst schwierig, nach vorne zu schauen.

Das stimmt. Hinterbliebene stehen in einer ersten Phase der Trauer neben sich, der Boden wird ihnen unter den Füssen weggezogen. Sie erleben ein Trauma. Normalerweise dauert es Jahre, bis sich betroffene Personen Hilfe suchen, um über das Ereignis zu sprechen. Die Gefahr der Isolation ist gross. Suizidhinterbliebene haben aufgrund des Erlebten ein erhöhtes Suizid-Risiko. Deshalb ist es sehr wichtig, dass Sie sich zu einem frühen Zeitpunkt Hilfe holen und versuchen, das Ereignis zu verarbeiten. Allerdings: Die Hürden, um darüber zu sprechen, sind hoch. Suizid ist nach wie vor ein Tabuthema.

Soll ich mit meinen Kollegen darüber sprechen, dass sich ein Elternteil von mir das Leben genommen hat?

Es steht jedem frei, ob er darüber sprechen möchte oder nicht. Es kann sein, dass Kollegen überfordert sind. Es ist aber oft so, dass sich aufgrund der Thematik tiefgründige Gespräche über das Leben und den Tod ergeben, die den Betroffenen helfen. Es gibt jedoch keinen Zwang, das Thema anzusprechen. Je nach Situation kann es kontraproduktiv sein. Ich kenne den Fall einer Hinterbliebenen, die im Vorstellungsgespräch den Suizid ihrer Mutter erwähnte. Die Frau konnte die Stelle antreten, doch bald erhielt sie die Kündigung. Die Begründung: nicht belastbar, unter anderem aufgrund des Suizids der Mutter.

Die Hinterbliebenen sind Experten in eigener Sache. Sie teilen ein traumatisches Ereignis, das sie alle erlebt haben.

Sie leiten mehrere Selbsthilfegruppen mit Suizidhinterbliebenen. Warum macht es Sinn, dass sich Betroffene untereinander austauschen?

Über den Suizid eines Elternteils oder eines Kindes zu sprechen, ist äusserst schwierig. Die Hinterbliebenen sind jedoch Experten in eigener Sache, sie teilen ein traumatisches Ereignis, das sie alle erlebt haben. Beispielsweise wird die Schuldfrage in jeder Gruppe thematisiert. Die Erfahrungen und Überlegungen, die in Bezug auf die Schuldfrage besprochen werden, haben eine sehr hohe Akzeptanz und Glaubwürdigkeit, da alle Betroffenen in der Gruppe diese Erfahrungen und Gefühle teilen.

Jörg Weisshaupt

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Legende: Privat

Jörg Weisshaupt ist Vorstandsmitglied des Forums für Suizidprävention und Suizidforschung Zürich und leitet die Selbsthilfegruppe «Refugium» für Erwachsene, die den Partner durch einen Suizid verloren haben. 2004 gründete Jörg Weisshaupt die Gruppe «Nebelmeer» für Jugendliche, welche einen Elternteil durch Suizid verloren haben, 2015 das Netzwerk «Trauernetz» für Suizidhinterbliebene.

Das Gespräch führte Christof Schneider.

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