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Tabuthema Sexuelle Gewalt an Männern: Wenn Opfer nicht gehört werden

    Sexuelle Übergriffe an Männern kommen zwar weniger oft vor, sind aber auch Realität. In der Schweiz können im juristischen Sinne aber nur Frauen Opfer einer Vergewaltigung werden. Das Thema stellt gesellschaftlich ein grosses Tabu dar. Für die SRF-Sendung «rec.» ging Reporterin Viktoria Kuttenberger der Frage nach, wie es zum Tabu kommt. Sie wollte wissen, wie es Betroffenen damit geht.

«So was passiert einem Mann doch nicht!»

Vor 6 Jahren musste Luca an einem Modelcasting etwas erleben, dass ihn sehr geprägt hat. Zum ersten Mal spricht Luca in der Öffentlichkeit über diese Tat.«Die Person, die mich gecastet hat, fand, dass ich zu wenig Emotionen zeige. Ich sollte die ganze Situation ‹mehr fühlen›, also mehr Emotionen zeigen. Er stand dann hinter mich und hat mir von hinten in die Unterhose gefasst. Er hat quasi Befriedigungsbewegungen gemacht.»

«Ich habe mich angewidert gefühlt und auch geschämt. Ich habe mir gedacht: So etwas passiert doch einem Mann nicht!»

Für das, was Luca passiert ist, gibt es einen Straftatbestand: die sexuelle Nötigung. Trotzdem hat er fünf Jahre lang niemandem davon erzählt. Erst nach einem Gespräch bei der Opferhilfe kann er sich seiner Familie öffnen. Das war nicht einfach: «Es hat sehr viel Überwindung gebraucht.»

Über das Geschehen zu sprechen, fällt vielen Männern schwer. Das erlebt auch Martin Bachmann. Er ist Sexologe und langjähriger Mitarbeiter im Männerbüro Zürich. «Opfer zu sein, kommt auf einem männlichen Plan nicht vor. Sich nicht wehren zu können, kommt nicht vor.»

Täter nützen oft Abhängigkeitsverhältnisse aus

Der nächste Betroffene will anonym bleiben. Wir nennen ihn Manuel. Schon als Kind lebte er in schwierigen Familienverhältnissen. Mit 15 Jahren begann er eine Schnupperlehre bei einem Bekannten der Familie. Der 62-jährige Lehrmeister übernahm immer mehr die väterliche Rolle und wurde zu einer wichtigen Bezugsperson für Manuel. Manuel geriet in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihm – und der Lehrmeister überschritt seine Grenzen.

Ich dachte in diesem Moment, dass ich sterbe.
Autor: Manuel (Name geändert) Betroffener

«Es fing damit an, dass er mir bei Umarmungen ans Glied fasste. Ich zuckte dabei jeweils zurück, schwieg aber. Er hat dann angefangen, mich vor anderen zu erniedrigen, wenn ich nicht machte, was er wollte. Er konnte die ganze Zuneigung und Wertschätzung wie ein Puppenspieler steuern.» Über Monate hinweg wurde es immer schlimmer. Auch die körperlichen Übergriffe. «Er zog mir die Hosen runter und hat mich missbraucht. Ich hatte das Gefühl, dass ich sterbe in diesem Moment. Über zwei Jahre hinweg kam es zu diesen Missbräuchen, meistens freitags und samstags.»

Sonderfall Schweiz

Wenn in der Schweiz ein Mann anal vergewaltigt wird, gilt das bloss als sexuelle Nötigung. Nach langem Schweigen zeigt Manuel seinen Lehrmeister an wegen sexueller Nötigung, sexueller Handlung mit Abhängigen und kinderpornografischen Inhalten. Wegen Vergewaltigung kann er seinen Täter aufgrund der Definition im Gesetz nicht anzeigen.

Diese juristische Geringschätzung ist für Betroffene schlimm. Sie wünschen sich von der Gesellschaft ein stärkeres Bewusstsein für die Thematik. Manuel wird beim Thema emotional: «Ich wurde vergewaltigt. Es war keine sexuelle Handlung mit Abhängigen. Es ist ein Missbrauch. Bin ich nicht gleich wert? Kann mir als Mann nicht das Gleiche passieren?»

Mögliche Zeitenwende im Sexualstrafrecht

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Mit der Auslassung von Männern als Opfern im Sexualstrafrecht steht die Schweiz so gut wie alleine da: Nirgendwo sonst nämlich wird vaginale und anale Vergewaltigung unterschieden. Hierzulande gilt letztere jedoch «nur» als sexuelle Nötigung. Auch Penetrationen mittels eines Gegenstandes erfüllen den Tatbestand der Vergewaltigung nicht.

Die Lücke in der Gesetzgebung stuft auf jahrhundertealten Ansichten. Noch im Jahr 1991 sprach der Bundesrat von unterschiedlichen Psychologien bei Vergewaltigungen hetero- und homosexuellen Settings.

Nun aber soll Bewegung ins Thema kommen: Nach über vier Jahren Beratung hat der Ständerat Anfang Monat die sogenannte «Nein-ist-Nein»-Lösung zur Revision des Sexualstrafrechts verabschiedet. Mit der neuen Regelung könnten erstmals auch Männer vor dem Gesetz Opfer einer Vergewaltigung werden. Wer künftig des Vergehens schuldig gesprochen wird, müsste zwingend ins Gefängnis. Es wird erwartet, dass sich die Vorlage durchsetzen wird, zuerst muss allerdings noch der Nationalrat darüber beraten.

10vor10, 21.07.2022, 21:50 Uhr ; 

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