Zehntausende Männer, Frauen und Kinder waren 2015 auf dem Weg Richtung Europa. Das Interesse in den Medien war gross, fast täglich erschienen Berichte, auch in der Schweiz. Eine soeben publizierte Studie zeigt: Die Berichterstattung über Asyl- und Fluchtthemen beeinflusst die Richterinnen und Richter am Bundesverwaltungsgericht, wenn es um Asyl-Beschwerdeverfahren geht. Je mehr also über diese Themen berichtet wird, desto tendenziell härter urteilen die Richter.
«Medien beeinflussen nicht nur die Öffentlichkeit»
Das zeigt eine neue Studie von Judith Spirig , Assistenzprofessorin am University College London. Sie erklärt den Zusammenhang: «Nehmen wir den Fall einer Person aus Sri Lanka, die Beschwerde einreicht. Wenn jetzt im Monat vor dem Entscheid der Beschwerde täglich zehn Artikel zu Fluchtthemen erscheinen, dann hat die Beschwerde eine Gutheissungswahrscheinlichkeit von 27 Prozent», sagt Spirig. Wenn aber 20 statt nur 10 Zeitungsartikel pro Tag im Monat vor dem Entscheid erschienen, dann sinke die Gutheissungswahrscheinlichkeit um 14 Prozent.
Über 30'000 Asyl-Gerichtsentscheide des Bundesverwaltungsgerichts untersuchte Judith Spirig auf einen Zusammenhang mit der Medienberichterstattung und konnte aufzeigen: Ja, diesen Zusammenhang gibt es. Die Medien können also nicht nur die Öffentlichkeit beeinflussen, sondern auch Richter am Bundesverwaltungsgericht.
«Eigentlich nichts anderem als dem Recht verpflichtet»
Dieser Befund tangiert die Arbeit von Lea Hungerbühler. Sie ist Anwältin und vertritt regelmässig Asylfälle vor dem Bundesverwaltungsgericht. Das Ergebnis der Studie stimmt sie nachdenklich: «Eigentlich ist es die Aufgabe der Richterinnen und Richter, nichts anderem als dem Recht verpflichtet zu sein, das heisst unserer Verfassung, unserem Gesetz. Wenn man da merkt, dass es externe Faktoren gibt, die auch noch einen Einfluss auf einen Entscheid haben, dann ist das nicht das, was man grundsätzlich von einem Richter oder einer Richterin erwartet.»
Für Lea Hungerbühler ist das Ergebnis der Studie allerdings nicht überraschend, denn «Richterinnen und Richter sind Menschen, keine Maschinen».
Verletzen die Richter ihre eigene Ethik-Charta?
Richterinnen und Richter am Bundesverwaltungsgericht müssen unabhängig sein, so steht es in der Ethik-Charta des Gerichts: «Sie vermeiden den Anschein jeglicher Beeinflussung.» Doch die Studie zeigt: Eine Beeinflussung findet statt, durch die Medienberichterstattung. Verletzen damit die Richter ihre eigene Ethik-Charta?
Nein, sagt Rocco Maglio, Mediensprecher des Bundesverwaltungsgerichts, nur die unmittelbare Einflussnahme sei nicht zulässig: «Wenn eine Medienkampagne über einen konkreten Fall gemacht wird oder Druck der beteiligten Parteien ausgeübt wird, dann ist das nicht zulässig.» Wenn jedoch die öffentliche Diskussion, die Medienberichterstattung über viele Jahre zu einem Thema das Wertesystem eines Richters präge, dann gehöre das zum System dazu, denn Richterinnen und Richter seien Menschen.
Trotzdem: Die Studie sei wichtig für die Richter des Bundesverwaltungsgerichts, sagt Maglio: «Sie hilft, das Bewusstsein zu schärfen, dass das eigene Wertesystem auch durch die Medienberichterstattung geprägt wird. Wenn man sich dessen bewusst ist, dann führt dies zu mehr richterlicher Unabhängigkeit.»