Die Tessiner Lega ist eine Ausnahmeerscheinung in der schweizerischen Politlandschaft. Die Rechtsbewegung ohne klare Parteistruktur entstand 1991 aus dem Nichts, setzte fortan die politischen Themen und stellt heute gar die Mehrheit der Tessiner Regierung.
Ohne die Lega wäre das Tessin heute sehr anders, sagen Experten wie Politwissenschaftler Oskar Mazzoleni.
Keine Tabus und klare Schuldzuweisung
Kernstrategie der Lega: keine falschen Hemmungen. Autoritäten werden angegriffen und in der sonntäglichen Gratiszeitung «il mattino» lächerlich gemacht. Besonders linke Parteiexponenten kommen mit teils grotesken Karikaturen an die Kasse.
Die Lega habe die Tessiner Politsprache verändert, sie aggressiver gemacht, sagen viele. Klar ist: Diese klare Sprache, die vor nichts zurückschreckt, hat vielen Unzufriedenen, auch vielen jungen Menschen, gefallen.
Auch dass sich die Lega scheinbar den Nöten der einfachen Menschen verschreibt, hohe Krankenkassenprämien anprangert und Abfallsackgebühren bis zum Gehtnichtmehr bekämpft, hat zu Zuspruch geführt.
Grenzgänger als Schuldige
Die Lega dei Ticinesi spielt erfolgreich mit Gegensätzen wie «Zentrum-Peripherie», «Macht-Ohnmacht», «Täter-Opfer». So entsteht das Bild des kleinen peripheren Bergkantons, der sich wehren muss gegen Angriffe von aussen, von Bern, von Brüssel.
Nirgendwo in der Schweiz ist die Ablehnung gegenüber der EU so stark wie im Tessin. Negative Abstimmungsresultate betreffend der EU gehen Hand in Hand mit dem Erstarken der Lega. Hauptschuldige für Missstände im Tessin, für den starken Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, sind gemäss Lega die Grenzgängerinnen.
In den letzten 30 Jahren hat die Lega Beachtliches erreicht. Sie ist heute zweitstärkste Macht im Parlament und stellt gar die Mehrheit in der Regierung. Dieser Machtzuwachs in den Institutionen ist aber zugleich Stolperstein. Der für viele anziehend rebellische Ton ist verklungen.
Keine Lösungen von der Lega
Noch wichtiger: Die Lega bietet keine Rezepte für die Lösung des Tessiner Problems, die Grenzgänger-Problematik. Die Zahl der Grenzgängerinnen nimmt weiter zu und liegt derzeit gar bei rekordhohen 70’000 – pro Tag. Die Grenzgänger sind auch Ausdruck des starken Tessiner Wirtschaftsmotors. Positive Argumente aber passen nicht in die Opfersemantik der Lega.
Die Lega dei Ticinesi hat das Tessin gespalten in jene, die der Zukunft positiv gegenüberstehen und in jene, die Angst vor der Zukunft haben und frustriert sind. Von diesen Unzufriedenen, die sich als Opfer wahrnehmen, gibt es viele im Tessin. Auch das ist ein Verdienst der Lega. Gut möglich, dass die Unzufriedenheit, die die Lega schürt, beginnt, sich gegen sich selbst zu richten.
Bei den Kantonalwahlen 2019 verlor die Lega wiederholt Sitze. Die Corona-Krise könnte der Partei jetzt zu neuem Zuwachs verhelfen, sagen die Legisten. Zuwachs durch Krise. Ein Rezept, das früher oder später ins Abseits führt.