Das Wichtigste in Kürze
- Eine junge Autistin gerät in der S-Bahn in eine Billett-Kontrolle. Sie befindet sie sich statt in der 2. in der 1. Klasse.
- Weil sie vor der Kontrolle wegläuft, schickt ihr die SBB eine Busse über 240 Franken.
- Ihre Mutter informiert den Kundendienst über den Autismus und die Urteilsunfähigkeit ihrer Tochter.
- Bei Urteilsunfähigkeit kann die SBB gar nicht büssen, kritisiert der Behinderten-Dachverband.
- Nach Intervention von «Kassensturz» hat die SBB die Busse nun zurückgezogen.
Die neunzehnjährige Sonam Y. leidet an sogenanntem «frühkindlichen Autismus», eine der häufigsten Formen von Autismus. Sie hat grosse Mühe beim Kommunizieren und im Sozialverhalten. «Sie lebt in ihrer eigenen Welt», sagt ihre Mutter Pema.
Selbstständiges Pendeln bedeutet Autonomie
Doch Sonam kann auch sehr vieles leisten. Sie arbeitet in den Werkstätten des Vereins Zürcher Eingliederung. Am Webstuhl ist sie die Schnellste. Dass sie ihren Arbeitsweg alleine bewältigen könne, sei enorm wichtig, sagt Udo Pfeil, Sozialpädagoge und Betriebsleiter der Werkstätten: «Für unsere Mitarbeitenden ist es wichtig, ein Höchstmass an Selbstbestimmung, an Teilhabe und Integration verwirklichen zu können.» Mobilität sei dazu eine Voraussetzung: «Sonst ist man abgeschnitten vom öffentlichen Leben.»
Billett-Kontrolle entgleist
Doch ein Vorfall gefährdet Sonams Mobilität und Autonomie. Im Juli sitzt sie auf dem Heimweg in der ersten statt der zweiten Klasse. Dann gerät sie in eine Billett-Kontrolle. Die Situation überfordert sie offenbar, denn sie läuft davon. Warum das alles so passiert ist, ist nicht klar. Sonam hat nie über den Vorfall gesprochen, auch mit ihrer Familie nicht.
Flucht vor Kontrolle ist nachvollziehbares Verhalten
Ihr Betreuer Udo Pfeil glaubt nicht, dass Sonam aus böser Absicht in der falschen Klasse sass. Im Gegenteil sei das für Autisten ein durchaus nachvollziehbares Verhalten. Wahrscheinlich habe eine Stresssituation bestanden, vielleicht sei die zweite Klasse überfüllt gewesen und Sonam habe sich in die erste Klasse zurückgezogen. Autisten haben grosse Mühe mit zu vielen Reizen.
«Die anschliessende Flucht zeigt eben auch, wie hoch der Stresspegel für sie war. Sie hat am Ende keine andere Strategie für diese Situation gefunden», so der Sozialpädagoge.
SBB schickt Busse über 240 Franken
Sonams Mutter erfährt erst Wochen später vom Vorfall, als nämlich die SBB eine Busse über 240 Franken schickt. Für das «fahren ohne gültigen Klassenwechsel» verrechnet das Service-Center Einnahmen mehrere Zuschläge. Darunter 100 Franken für sogenannten «Missbrauch», dies weil Sonam weggelaufen ist.
Ihre Mutter erschrickt über die Höhe der Busse. «Ich dachte, dies sei nicht richtig. Ich werde dem Kundendienst erklären, was für eine Behinderung meine Tochter hat.»
In mehreren Mails erklärt sie die besondere Situation ihrer Tochter und dass diese nicht urteilsfähig sei. Ein Arztzeugnis bestätigt die Diagnose «frühkindlicher Autismus». Die SBB senkt die Busse danach «aus Kulanz» um 100 Franken, besteht jedoch auf Bezahlung der restlichen 140 Franken. Dies ist für die Mutter unverständlich, sie fragt nochmals nach.
Haltung des Kundendienstes unverständlich
Man habe die Situation noch einmal geprüft, ein weiteres Entgegenkommen sei aber nicht möglich, schreibt die SBB. Reisende seien selber verantwortlich für ein gültiges Ticket. Man nehme zum Fall keine weitere Stellung mehr. Für Sonams Mutter ist diese Haltung noch unverständlicher: «Der SBB-Kundendienst schreibt, die Selbstkontrolle gilt für alle gleich. Aber die Menschen sind nicht alle gleich.»
Behinderten-Dachverband gibt Mutter Recht
Dieser Meinung ist auch Caroline Hess-Klein, Chef-Juristin des Behinderten-Dachverbandes Inclusion Handicap. Gehe man davon aus, dass die betroffene Frau nicht urteilsfähig sei, dann dürfte die SBB keine Zuschläge erheben. «Weil sowohl das Behindertengleichstellungsrecht als auch das Privatrecht es verbieten, in einem solchen Fall eine Busse zu erheben.»
Sonams Mutter hat die 140 Franken inzwischen bezahlt. Ihr gehe es nicht ums Geld in dieser Sache, sondern um etwas ganz anderes. Deshalb sei sie mit dem Fall auch an die Öffentlichkeit. «Ich hoffe, dass das Personal der SBB ein bisschen Verständnis hat für die Menschen mit einer autistischen Beeinträchtigung. Und ein bisschen sensibel werden.»
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SBB: «Fehler, dass kein zweites Arztzeugnis verlangt wurde»
Im Interview mit «Kassensturz» nimmt SBB-Sprecher Christian Ginsig Stellung zum Fall. Das von der Mutter eingereichte Arztzeugnis sage zu wenig über die Ausprägung des Autismus von Sonam Y. aus, so Ginsig.
Allerdings: Die SBB hat dies der Mutter nie gesagt. Geschweige denn ein ausführlicheres Arztzeugnis verlangt. «Das ist ein Fehler seitens der SBB, da muss man klar dazu stehen», räumt Ginsig ein. Sobald man ein solches Zeugnis erhalte, werde man den Fall auch lösen.
Weitere Informationen:
Hinterlegung von Arztzeugnis als Lösung
Der SBB-Sprecher weist im Interview auch auf eine spezielle Liste hin. Auf dieser können sich Personen eintragen lassen, die ihr Abo oder Billett bei einer Kontrolle nicht korrekt zeigen können. «Dort ist es so, dass in Kontroll-Situationen unter Angabe des Namens die Kontrolle sofort abgebrochen wird.» Dies ist jedoch eher eine Lösung für besonders komplizierte Fälle und sei nicht primär für Personen mit einer Behinderung oder Beeinträchtigung gedacht. Der Eintrag auf der Liste kostet jährlich 100 Franken.
Für Umstände wie die von Sonam Y, wo aus medizinischen oder kognitiven Einschränkungen Probleme auftauchen können, gibt es eine andere Lösung. Hier bietet die SBB die kostenlose Hinterlegung eines entsprechenden Arztzeugnisses an. Dies würde dem Kundendienst eine rasche Abklärung solcher Fälle ermöglichen.
Inzwischen hat sich die SBB bei der Mutter von Sonam gemeldet und diese Lösung für Sonam vorgeschlagen. Für den Vorfall hat sich die SBB bei der Familie ausserdem entschuldigt. Man werde auch die geleisteten 140 Franken zurück zahlen.