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Stress und Frust: Der harte Alltag der Assistenzärztinnen
Aus Einfach Politik vom 19.08.2022. Bild: SRF
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Überstunden, Stress, Frust Der harte Alltag der Assistenzärzte

Franziska und Viola sind Assistenzärztinnen. Beide arbeiten derzeit im Spital. Die Zustände beschreiben sie als katastrophal. Tägliche Überstunden, Ruhezeiten, die nicht eingehalten werden und Stress prägen ihren Arbeitsalltag. Sie sind keine Einzelfälle.

Die Assistenzärztinnen Franziska und Viola (Namen geändert) sitzen in einem Gartenrestaurant mitten in Zürich, nippen an ihren kühlen Drinks und diskutieren über die Ereignisse am Spital in Einsiedeln.

Dieses geriet jüngst in die Schlagzeilen, weil auf einen Schlag alle sieben Assistenzärztinnen und Assistenzärzte gekündigt hatten. Aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen.

Erstaunt darüber sind die beiden jungen Frauen nicht. Die Massenkündigung sei zwar aussergewöhnlich – die Arbeitsbedingungen leider nicht.

Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die konnten nicht mehr vor lauter Erschöpung, die hatten ein Burn-out.
Autor: Viola Assistenzärztin
Eine junge Frau sitzt am Tisch und artikuliert mit den Händen.
Legende: Viola erzählt vom stressigen Arbeitsalltag als Assistenzärztin. Iwan Santoro

Die beiden Frauen arbeiten in verschiedenen Spitälern, Überzeiten seien an der Tagesordnung, sagen sie. Das belegt auch eine Umfrage des Verbandes der Schweizerischen Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte VSAO: Demnach verstossen die Arbeitszeiten bei 62 Prozent von fast 3000 Umfrage-Teilnehmenden noch immer gegen das Gesetz. Jede zweite Person steht im Wochenschnitt länger als die rechtlich zulässigen 50 Stunden im Dienst.

Für Viola ist klar: Wenn man so gestresst ist, passieren auch mehr Fehler, und das könne gefährlich sein für die Patienten. Allerdings habe dies im Alltag eigentlich kaum Folgen, trotz teils unhaltbarer Arbeitsbedingungen.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie viel Patienten aushalten. Man kann vieles vergessen oder falsch verordnen, und es passiert nichts.
Autor: Viola Assistenzärztin

Dass Assistenzärztinnen und -ärzte zu viel arbeiten, ist nicht neu. Dies war schon immer so. Erstaunlich ist, dass sich daran nichts ändert. Denn die frisch ausgebildeten Jungärztinnen und Jungärzte sind das Rückgrat eines jeden Spitals.

Fast die Hälfte aller Ärzte an den Schweizer Spitälern sind Assistenzärzte, also junge Menschen, die erst gerade ihr Medizinstudium abgeschlossen haben. Sie sind es, die in erster Linie Patienten beurteilen und betreuen.

Erst seit 2005 sind Assistenzärztinnen überhaupt dem Arbeitsgesetz unterstellt. Vorher gab es gar keine gesetzliche Höchstarbeitszeit. Und bis in die 1940-er Jahre arbeiteten frisch ausgebildete Ärzte sogar gratis. Erst nach ihrer Praxiszeit, welche fünf bis sechs Jahre dauert, erhielten sie ihren ersten Lohn.

Arztkittel, aus der Tasche ragt ein Stethoskop heraus.
Legende: Junge Assistenzärzte arbeiten mehr als gesetzlich erlaubt. Dies kann auch für Patienten gefährlich sein. Keystone/Gaetan Bally

Ärzte in der Schweiz in Zahlen

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  • In der Schweiz gibt es rund 39'000 Ärztinnen und Ärzte
  • 24'000 Ärzte sind in Spitälern tätig, davon rund 11'000 Assistenzärzte
  • Das Durchschnittsgehalt variiert stark zwischen den Regionen und beträgt zwischen 75'000 (Einsteigerlohn) und 120'000 Franken (Höchstlohn)
  • Die Ärzteausbildung kostet den Staat mindestens 500'000 Franken
  • Die Ärzteausbildung gehört zu den längsten – bis zum Erwerb des Facharzttitels dauert es rund 12 Jahre (6 Jahre Studium, 6 Jahre Praxis)

(Quelle: BFS und VSAO)

Verband will Arbeitszeit der Assistenzärzte senken

Angelo Barrile ist selbst Arzt, SP-Nationalrat und vor allem Präsident des Verbandes der Assistenz- und Oberärztinnen und –ärzte. Er kennt das Problem der Überlastung.

Man habe zwar 2005 die 50-Stunden-Woche eingeführt, aber das Personal sei nur unwesentlich aufgestockt worden. Das Resultat: Es fallen zig Überstunden an. Die effektive Überzeit könne aber nur ungenügend kompensiert werden. Teilweise verlangten Vorgesetzte von den Assistenzärzten, dass sie ausstempeln und dann weiterarbeiteten, so Barrile.

Vorstösse auf politischer Ebene, mehr Ärztinnen und Ärzte auszubilden und damit das Personal zu entlasten, sind bisher in der nationalen Politik gescheitert. Deshalb setzt der Verband jetzt auf mehr Arbeitszeitkontrollen in den Spitälern.

Zudem rät Barrile den betroffenen Mitarbeitenden dringend, sich bei Missständen an die Meldestelle des VSAO zu wenden. Diese ist seit Mai in Betrieb und wird schon rege genutzt. Bereits über 60 Meldungen sind eingegangen. Bei den meisten geht es um Verstösse gegen das Arbeitsgesetz.

Angelo Barrile studiert sitzend Akten
Legende: VSAO-Präsident Angelo Barrile will die Arbeitszeit für Assistenzärzte reduzieren. SRF/Iwan Santoro

Mittelfristig brauche es aber eine Reduktion der Höchstarbeitszeit, ist Barrile überzeugt. Derzeit sei eine Arbeitsgruppe daran, die Einführung einer 42-Stunden-Woche zu prüfen. Barrile ist sich bewusst, dass eine Reduktion der Arbeitszeit zur Folge hätte, dass mehr Personal eingestellt werden müsste; dies, um zu verhindern, dass dann einfach noch mehr Überzeit anfällt. Das koste zwar, aber dafür habe man weniger Aussteigerinnen, zufriedenere Angestellte, etc. Das zahle sich mittelfristig aus.

Spitalverband will Büroarbeit für Ärzte reduzieren

Beim Spitalverband H+ ist man weniger begeistert von den Plänen des Assistenzärztinnenverbandes. Assistenzärztinnen und -ärzte befänden sich noch in der Weiterbildung, deshalb sei eine Reduktion der Wochenarbeitszeit schwierig umzusetzen, sagt Werner Kübler, Spitaldirektor des Universitätsspitals Basel und Vizepräsident des Spitalverbandes H+.

Komme hinzu, dass eine 42-Stunden-Woche dazu führen würde, dass man mehr Ärztinnen und Ärzt einstellen müsste. Diese seien aber auf dem Markt gar nicht verfügbar. Stattdessen setzt der Spitalverband H+ bei der Administration an.

Arztkittel hängen an einer Garderobe.
Legende: Ein Problem: Immer mehr Administration. Assistenzärztinnen müssen nach der Patientenpflege meist noch stundenlange Büroarbeit erledigen. Keystone/Peter Steffen

Die Büroarbeit habe in den letzten Jahren laufend zugenommen, da Bund und Kantone immer mehr Daten verlangten. Diese Arbeit dürfe nicht mehr werden. Der Spitalverband hofft hier auf die Digitalisierung. Insbesondere von der Einführung des elektronischen Patientendossiers erhofft man sich eine grosse Entlastung für die Spitäler.

Assistenzärztinnen wollen mehr Arbeitskolleginnen und -kollegen

Auch Franziska und Viola macht die viele Büroarbeit Mühe. Sie fänden es sinnvoll, wenn die administrative Arbeit vermehrt ausgelagert werden könnte. Schliesslich sei man als Ärztin in erster Linie für die Patientinnen und Patienten da. Und nicht, um stundenlang irgendwelche Liste abzutippen, meint Viola.

Nur die Arbeitszeit auf dem Papier zu reduzieren, bringt nichts
Autor: Viola Assistenzärztin

Skeptisch sind die beiden jungen Frauen hingegen, was die Idee der 42-Stunden-Woche betrifft. Die Arbeit müsse auf mehr Schultern verteilt werden, so Viola.

Politik sieht vorerst Spitäler und Gewerkschaften in der Verantwortung

Sowohl von der Linken als auch auf der bürgerlichen Seite sind derzeit keine politischen Vorstösse bekannt, welche sich der Arbeitssituation der Assistenzärzte annehmen. Erst kürzlich sind Vorstösse der SP (Barrile und Carrobio Guscetti) im Parlament versenkt worden, welche verlangten, dass die Schweiz mehr Ärztinnen und Ärzte ausbildet. Neue Vorstösse sind nicht geplant.

Für Ruth Humbel, Gesundheitspolitikerin der Mitte-Partei, ist die Einhaltung des Arbeitsgesetzes in erster Linie Sache der Sozialpartner und der Kantone. Gebe es Gesetzesverstösse, müsse bei den entsprechenden Spitälern interveniert werden. Dies sei aber Sache der Kantone.

So schnell ändert sich nichts

Die Einführung einer 42-Stunden-Woche für Assistenzärztinnen und -ärzte dürfte also noch auf sich warten lassen. Und auch sonst wird sich für Viola und Franziska so schnell nichts ändern im Arbeitsalltag. Würden sie dennoch wieder Medizin studieren?

Ich würde meinem Kind nicht mehr empfehlen, Medizin zu studieren
Autor: Viola Assistenzärztin und Mutter

Das sei eine schwierige Frage, meint Franziska. Wahrscheinlich würde sie beruflich nochmals denselben Weg einschlagen, denn sie arbeite sehr gerne mit Patientinnen und Patienten.

Viola erzählt, es habe einige Momente gegeben, da habe sie ans Aufhören gedacht. Dennoch gefalle ihr der Beruf eigentlich – weiterempfehlen würde sie ihn trotzdem nicht.

Einfach Politik, 19.08.2022

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