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Überwachung von Versicherten Mehr als die Polizei erlaubt

  • Ein neues Gesetz lässt Überwachung von Versicherten zu.
  • Damit sollen Betrüger aufgespürt und Millionen gespart werden.
  • Gegner sagen: Das ist Sache der Polizei.
  • Es kommt möglicherweise zu einer Volksabstimmung.

Rechtsanwalt Massimo Aliotta sitzt in seinem Büro in Winterthur und ist aufgebracht. «Diese Detektive forschen und forschen, filmen und filmen, bis irgendetwas vorliegt, wo sie allenfalls rechtfertigen könnten, dass Versicherungsbetrug vorliegen könnte.» Aliotta vertritt immer wieder Klienten, welche von Detektiven einer Versicherung (Suva, IV, aber auch private Versicherungen) wegen eines Betrugsverdachtes überwacht worden sind.

Gesetzliche Grundlage geschaffen

Aliotta nervt sich, dass Sozialversicherer die Überwachung der eigenen Kunden jetzt sogar ausbauen können: National- und Ständerat haben kürzlich die gesetzliche Grundlage geschaffen für die Überwachung einzelner Versicherten durch die Versicherung – und das ohne richterliche Genehmigung.

Versicherungen haben ein Interesse am neuen Gesetz: Die Unfallversichererin Suva hat nach eigenen Angaben zwischen 2009 und 2016 in rund 4500 Verdachtsfällen insgesamt 111 Observationen durch Privatdetektive durchführen lassen. Dabei bestätigte sich in mehr als jedem zweiten Fall der Anfangsverdacht des Versicherungsmissbrauchs. So konnte die Suva Versicherungsleistungen in der Höhe von 17 Mio. Franken einsparen.

Überwachung gegen Betrug

Versicherungen, die selber Detektive auf Versicherungsnehmer ansetzen dürfen? Geht gar nicht, ist Rechtsanwalt Philip Stolkin überzeugt: «Das neue Gesetz hilft nicht, Missbräuche der Versicherten aufzudecken, sondern es fördert den Missbrauch der Versicherungen, die nur ein Ziel haben: Leistungen einzusparen auf Kosten der Versicherten. Einseitige Detektiv-Berichte mit gewaltiger Suggestivkraft.»

Das sind für Anwalt Stolkin die Folgen des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Privatdetektiven und Versicherungen. Rechtstaatlich sei dies inakzeptabel, sagt Stolkin. Er hat eine Unterschriftensammlung gegen das neue Gesetz gestartet. Kommt dieses Referendum zustande, gibt es eine Volksabstimmung, in der das Gesetz abgelehnt werden könnte.

Nicht nur im Interesse der Versicherungen

Die Versicherungen unterstützen das Gesetz aber nicht aus reinem Eigeninteresse: Könne man Versicherungsmissbrauch oder gar Betrug aufdecken, sei das im Interesse aller ehrlichen Versicherten, sagt Roger Bolt, Leiter Missbrauchsbekämpfung bei der Suva gegenüber der «Rundschau».

Und: «Überwachungen sind das letzte Mittel, das wir einsetzen. Vor allem bei kostenintensiven Fällen, bei denen wir nicht weiterkommen, bei denen es Unklarheiten gibt und die man nicht mehr anders klären kann.» Roger Bolt ist überzeugt, dass Observationen durch Privatdetektive ein wichtiges Instrument sind, um zu verhindern, dass Versicherungen ungerechtfertigte Leistungen auszahlen müssen.

Polizei oder Privatdetektiv?

Dass Versicherungsmissbrauch geahndet werden muss, das finden auch die Gegner des neuen Gesetzes. Nur: Es gehe eben nicht, dass Versicherungen die Überwachung möglicher Betrüger selber organisieren und handhaben. Das sei Sache des Staates, der neutral ermittle. «Versicherungsmissbrauch ist ein Straftatbestand, da gehört die Polizei und die Staatsanwaltschaft hin und nicht irgendwelche Hilfssheriffs der Versicherung», sagt Rechtsanwalt Stolkin.

Ruth Humbel von der CVP gehört zu jener Mehrheit der Nationalrätinnen, welche das umstrittene Gesetz unterstützten. Dass Versicherungen gleich die Polizei einschalten sollen, geht für sie nicht auf, schliesslich gehe es nur um Überwachung im öffentlichen Raum: «Für die Observierung einer Person wegen Verdachts auf Versicherungsmissbrauch reichen qualifizierte Personen der Sozialversicherungen. Dafür braucht es sicher keine Polizei, denn es handelt sich nicht um eine Strafuntersuchung.» Und im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft und Polizei dürften die Privatdetektive nie das Telefon, das Internet oder den Postverkehr überwachen.

Für Gegner verfassungswidrig

Diese Argumente stechen nicht, sagt Rechtsanwalt Stolkin: Denn nach dem neuen Gesetz bestimmen alleine die Versicherungen, wen sie überwachen wollen, ein neutraler Richter habe dazu fälschlicherweise nichts zu sagen. Für Stolkin ist das Gesetz deshalb sogar verfassungswidrig: «Wir haben keinerlei richterliche Kontrollen. Man will keine rechtsstaatlichen Verfahren. Wir haben hier eigentlich ein Gesetz, das missbräuchlich erlassen wurde, einzig und alleine aufgrund der überwiegenden Interessen der Versicherungen.»

Für Humbel hingegen ist klar: Mit dem Gesetz gibt es endlich eine saubere, rechtliche Grundlage – und genau die habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gefordert.

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