Am Briefkasten der Gygers in Ormalingen ist mit Klebeband ein neuer Name befestigt: «Familie Nekrasova» steht dort in schwarzen Buchstaben geschrieben. Natalia Nekrasova und ihre beide Kinder Andrii (16) und Zlata (9) aus der Umgebung von Berdjansk wohnen seit drei Wochen im Baselbiet. Schon bei der Begrüssung wird klar: Sprachlich ist es in diesem Haushalt kompliziert. Daniel Gyger hält sein Smartphone in der Hand – damit übersetzt er, was Natalia Nekrasova ins Handy spricht: «Die Unterhaltung stockt zwar, wegen der Internet-Übersetzung, aber es funktioniert besser als erwartet.» Gygers und Nekrasovas können sich nur so verständigen.
Kennengelernt haben sich die beiden Familien an der polnisch-ukrainischen Grenze. Alexandra Gyger und ihr Mann Daniel brachten kurz nach der russischen Invasion Hilfsgüter dorthin. «Uns war von Anfang an klar, dass wir die drei freien Sitzplätze auf der Rückfahrt füllen wollen», sagt Daniel Gyger. Über eine polnische Organisation entstand der Kontakt zu Natalia und ihren beiden Kindern. «Es war sehr schwer für mich, die Ukraine zu verlassen. Mein Mann und meine Mutter sind noch dort. Ich bin nur wegen meiner Kinder gegangen», erzählt Natalia Nekrasova. Zahnbürsten und ein paar Kleider – mehr hätten sie auf ihre Flucht nicht mitnehmen können.
Es war sehr schwer für mich, die Ukraine zu verlassen. Mein Mann und meine Mutter sind noch dort.
Das Wohnzimmer, die Küche und das Badezimmer teilen die beiden Familien. Rund 25 Quadratmeter gross ist der Raum im Keller, in welchem sich die Nekrasovas zurückziehen können. Es hat Fenster, zwei Betten und viele Plakate an den Wänden. Finanziell kommen die Gygers für die Nekrasovas auf. Bis jetzt sei das so für alle in Ordnung. «Wir bereden alles und ich bin dankbar, dass Alexandra und Daniel jeden Zentimeter ihres Hauses mit uns teilen», so Natalia. Trotzdem – einfach ist es nicht.
Die kulturellen Unterschiede seien stark zu spüren, sagt Alexandra Gyger. «Allein schon das Kochen ist ein grosses Thema. Und die Erziehung: Natalia pflegt andere Regeln, als ich.»
Der Krieg gehört zum Alltag
Täglich fluten Neuigkeiten aus der Ukraine das Haus. Gut damit umzugehen, sei schwer, sagt Daniel Gyger: «Die Videos aus der Ukraine sind ungeschnitten. Da sieht man auch mal Leichen von Babys. Bilder, die wir hier am Fernsehen nie sehen.» Manchmal weinen alle gemeinsam am Küchentisch. Nur der Alltag hilft den beiden Familien, den Krieg auch mal auszublenden.
Die Videos aus der Ukraine sind ungeschnitten. Da sieht man auch mal Leichen von Babys. Bilder, die wir hier am Fernsehen nie sehen.
Tochter Zlata geht sei kurzem mit Gygers Tochter Sara zur Primarschule. Sohn Andrii ist viel Zuhause und lernt Deutsch. In der Ukraine war er mitten in der Ausbildung zum Informatiker. Ein glücklicher Zufall: Der Gastvater ist auch Informatiker. Manchmal darf Andrii ihn zur Arbeit begleiten. Daniel Gyger würde ihm eigentlich gerne eine Lehrstelle organisieren, dafür sei es aber noch zu früh. Natalia Nekrasova denkt nämlich nur an die Heimkehr. «Ich wünsche mir nichts mehr als das Ende dieses elenden Kriegs. Ich will mit meinen Kindern wieder nach Hause zu meiner eigenen Familie.»