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Umstrittene Bildungsreform Der Genfer Sekundarstufe droht ein Status quo, den niemand will

In einem Punkt sind sich in Genf alle einig: Der bisherige «cycle d’orientation», die Sekundarstufe, funktioniert nicht. Denn drei Viertel aller Schülerinnen und Schüler gehen in den obersten Leistungszug, der auf das Gymnasium hinführt. Etwa 20 Prozent sind im zweiten Leistungszug, der auf eine Berufslehre abzielt, und nur fünf Prozent befinden sich im schwächsten Leistungszug. Letztere fühlen sich dort abgehängt.

Gemeinsames Unterrichten umstritten

Wegen dieser ungleichen Verteilung sollen künftig in den ersten zwei Jahren der Sekundarstufe alle gemeinsam unterrichtet werden – aber in Fächern wie Mathematik und Deutsch auf unterschiedlichem Niveau.

Wenn die Klassen gemischt seien, fördere das die weniger begabten Schüler, sagt die Genfer Bildungsdirektorin Anne Emery-Torracinta. Die Bildungsdirektorin der SP verweist auf die Kantone Wallis, Neuenburg und Jura, die ähnliche Modelle kennen.

Eine Mehrheit des Kantonsparlaments unterstützt die Reform. Aber das gemeinsame Unterrichten ist umstritten. Das ziehe eher die guten Schüler nach unten, findet das Referendumskomitee. Zweifel gibt es auch bei der Umsetzbarkeit.

Besseres Reformprojekt gefordert

Bertrand Reich, Präsident der Genfer FDP, nennt das Beispiel «Hund» bei einer Deutschprüfung. Da mache man den Schülern weis, dass sie Deutsch könnten, aber manche müssten nicht einmal den Artikel kennen. Deshalb brauche es ein neues und besseres Reformprojekt. Auch die Lehrerverbände zeigen sich zurückhaltend. Sie begrüssten die Reform zunächst, haben nun aber Stimmfreigabe beschlossen.

Anne Emery-Torracinta wird von einer Kamera gefilmt.
Legende: Die Genfer Bildungsdirektorin Anne Emery-Torracinta hat mit ihrer Bildungsreform einen schweren Stand. Keystone

Die Abstimmung über die Bildungsreform kommt weniger als ein Jahr vor den Genfer Kantonswahlen an die Urne. Bei diesen Wahlen wollen die Bürgerlichen die linksgrüne Mehrheit in der Regierung ablösen. Ein Scheitern der Reform wäre für die Regierung eine empfindliche Niederlage – auch wenn der Bildungsdirektorin keine Abwahl droht, da sie schon angekündigt hat, nicht mehr antreten zu wollen.

Würde die Bildungsreform abgelehnt, droht der Genfer Sekundarstufe wohl der Status quo. Obwohl alle damit unzufrieden sind.

SRF 4 News, Heute Morgen, 19.04.2022, 06:00 Uhr

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