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Umstrittene Praxis Kantone greifen in den Prämienverbilligungstopf

Immer mehr Menschen zahlen ihre Prämienrechnungen nicht. «10vor10»-Recherchen zeigen: Mehrere Kantone decken das Loch mit Geldern aus dem Prämienverbilligungs-Topf.

Die wachsende Zahl unbezahlter Krankenkassen-Rechnungen führt immer häufiger zu Betreibungen und später zu Verlustscheinen. Dass viele Menschen ihre Prämie nicht mehr bezahlen können, spüren die Kantone: Sie müssen zu 85 Prozent für die Schuldscheine aufkommen. Nun zeigen Recherchen von «10vor10» erstmals, dass mehrere Kantone diese Kosten aus dem Budget der individuellen Prämienverbilligungen decken.

144 Millionen Franken abgeflossen

Konkret haben in den letzten Jahren acht Kantone für die Verlustscheine den Topf der Prämienverbilligungen angezapft: Insgesamt 144 Millionen Franken flossen so allein 2018 ab. 2013 waren es noch 84 Millionen.

Betreibungsbeamte: «Das ist verhängnisvoll»

Die Recherchen von «10vor10» alarmieren die Schweizer Betreibungs- und Konkursbeamten. Nicht nur monieren diese, zu wenig Mittel für die Einforderung von Prämienschulden zu erhalten. Für Vizepräsident Yves de Mestral ist auch die Praxis der Kantone verhängnisvoll: «Wenn aus dem Prämienverbilligungs-Topf auch die Verlustscheine refinanziert werden, löst das einen gravierenden Teufelskreis aus.»

Denn das Vorgehen führe zu weniger Begünstigten von Prämienverbilligungen, was mehr Menschen in die Schulden treibe. Damit stiegen wiederum die Verlustscheine an.

«10vor10» fragt bei den Kantonen nach. Zürich, Bern, Solothurn und St.Gallen bestätigen: Für die steigenden Verlustscheine habe man keine zusätzlichen Mittel in den Prämienverbilligungstopf einbezahlt.

Die restlichen vier Kantone – Wallis, Appenzell Ausserhoden, Jura und Schaffhausen – geben an, die höheren Kosten bei den Verlustscheinen würden innerhalb des Budgets für Prämienverbilligungen und Verlustscheine mitberücksichtigt. Solothurn hat inzwischen reagiert und begleicht die Verlustscheine seit 2019 aus einem separaten Topf.

Werden Bundesgelder zweckentfremdet?

Pikant: Im Prämienverbilligungs-Topf befinden sich nicht nur kantonale Gelder. Der Bund zahlt deutlich mehr als die Hälfte ein, wie «10vor10» im September 2018 berichtete. Zudem hielt der Bundesrat 2005 fest, dass diese Bundesbeiträge vollumfänglich für die Verbilligung der Krankenkasse eingesetzt werden müssten

Greifen die Kantone für die Begleichung der Verlustscheine also zu Unrecht in diesen Topf? Die Präsidentin der kantonalen Gesundheitsdirektoren Heidi Hanselmann sieht kein Problem: «Es gibt ein Rechtsgutachten, das sagt, dass es zulässig ist.»

Auch das Bundesamt für Gesundheit sage, es sei zulässig. Und: «Wenn man schaut, wer in die Verlustscheine reinläuft, sind das Leute, die wirtschaftlich bescheiden leben.» Und das Gesetz sehe ja vor, dass ebendiese Menschen entlastet würden.

«Keine Rechtsprechung, ob zulässig oder nicht»

Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität Zürich, spricht von einer «schwierigen Rechtsfrage», die «nicht ganz eindeutig» zu beantworten sei: «Schuldscheine werden auch bei Menschen ausgestellt, die keinen Anspruch auf Prämienverbilligung haben.»

Andererseits seien die Kantone gesetzlich verpflichtet, für die Schuldscheine aufzukommen: «Wenn sie dafür in den Prämienverbilligungstopf greifen, kann ich das nachvollziehen.»

Allerdings: Gänzlich geklärt ist die Frage rechtlich nicht, weil es kein Urteil gibt. Gächter: «Es gibt keine Rechtsprechung dazu, ob das zulässig ist oder nicht.»

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