Zum Inhalt springen

Urteil ohne Richter Kriminologin: «Strafbefehle sind rechtsstaatlich problematisch»

Immer mehr Menschen in der Schweiz werden verurteilt, ohne dass sie ein Richter angehört hat – aus Spar- und Zeitgründen. Ohne Einsprache ist der Strafbefehl rechtsgültig. Das sorgt für Kritik.

Der Strafbefehl regelt in der Schweiz über 95 Prozent der Fälle. Staatsanwältinnen und -anwälte können so in eigener Regie Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten verhängen. Dafür müssen sie die beschuldigte Person nicht einmal einvernehmen.

Wenn die beschuldigte Person nicht innert zehn Tagen Einsprache erhebt, gilt der Strafbefehl als rechtskräftiges Urteil. Anwältinnen und Menschenrechtsorganisationen kritisieren: Das sei rechtsstaatlich fragwürdig.

«Rechtsstaatlichkeit unter Umständen nicht gewährt»

Tatsächlich sei das Strafrechtsverfahren rechtsstaatlich problematisch – in verschiedener Hinsicht, erklärt Nora Markwalder. Sie ist Assistenzprofessorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen. Denn nicht ein Richter spricht das Urteil, sondern die Staatsanwaltschaft.

«Es gibt kein Gericht, welches das Urteil spricht. Und es gibt in der Regel auch keine Beweiserhebung während dieses Verfahrens, sodass die beschuldigte Person einfach einen Strafbefehl nach Hause geschickt bekommt. Das sind Probleme, die dazu führen, dass die Rechtsstaatlichkeit unter Umständen nicht gewährt ist», erläutert Markwalder.

Konkrete Problematiken am Verfahren

Box aufklappen Box zuklappen
  • Keinen direkten Kontakt zwischen der Staatsanwaltschaft und der beschuldigten Person
  • Keine Beweiserhebungen: Beweise basieren auf Polizeiakten
  • Strafbefehl als schriftliche Urkunde: Wird nach Hause geschickt, ohne Klarheit, ob die beschuldigte Person die Verurteilung verstanden hat und ob sie weiss, dass sie Einsprache erheben kann

Der Strafbefehl wurde vor zehn Jahren eingeführt, um das Justizsystem zu entlasten. Und obwohl er nur angewendet werden dürfte, wenn der Sachverhalt klar ist oder ein Geständnis vorliegt, sei er mittlerweile zur Regel geworden, sagt die Kriminologin Markwalder.

«Da stellt sich die Frage, ob es sich nicht um eine unzulässige oder zu weite Ausweitung dieses Verfahrens handelt. Wenn es nicht mehr die Norm ist, dass man vor das Gericht erscheinen muss, sondern dass einfach ein Strafbefehl nach Hause geschickt wird.»

Überbleibsel eines gestohlenen Fahrrades liegen am Boden.
Legende: «Der Strafbefehl ist dazu da, in Bagatellfällen ein schnelles und kurzes Verfahren zu garantieren», sagt Nora Markwalder. Keystone/Gaetan Bally

Der Strafbefehl bedeutet eine enorme Macht für die Staatsanwaltschaften. Und auch wenn die Assistenzprofessorin davon ausgeht, dass die Staatsanwaltschaften sorgfältig und nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten: «Wo Menschen arbeiten, passieren Fehler. Oder es wird auch ab und zu etwas unsorgfältig gearbeitet.»

Das Problem in der Strafjustiz sei dann, dass solche Fehler nicht entdeckt würden, «weil es keine weitere richterliche Überprüfung gibt». Dazu komme das Problem, dass ein Strafbefehl eben rechtskräftig werde, wenn jemand keinen Widerspruch einlege. «Das sind Mechanismen, die eine weitere Überprüfung dieses Strafbefehls verhindern und auch zu Fehlurteilen führen können», so Markwalder.

Strafbefehl ist nicht mehr wegzudenken

Trotz der Kritik: Eine Justiz ohne Strafbefehl ist heute undenkbar – eine Ressourcenproblematik. «Die Strafbefehlsverfahren wurden vor allem geschaffen, um die Flut an Verfahren, die im Bagatellbereich liegen, zu bewältigen.

Heutzutage können Staatsanwaltschaften ohne dieses Instrument diese Fallflut gar nicht mehr bewältigen», erklärt die Kriminologin. «Ohne Strafbefehlsverfahren wäre es gar nicht mehr möglich, alle diese Fälle vor Gericht zu führen. Das würde wahrscheinlich zu einem Einbruch des ganzen Systems führen.»

SRF 4 News, 04.01.2023, 06:47 Uhr ; 

Meistgelesene Artikel