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Urteile des Bundesgerichts Geschiedene Frauen sollen mehr für eigenen Lebensunterhalt sorgen

Das Bundesgericht vereinheitlicht den Unterhaltsanspruch bei Scheidung. Das hat Folgen vor allem für die Frauen.

Sie sind zu Hause geblieben, haben sich jahrelang um die Kinder oder die betagten Eltern gekümmert. Sie haben sich vielleicht ehrenamtlich in Sport- oder Kulturvereinen engagiert. Klar ist: Je länger eine Frau keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, desto schwieriger wird es für sie, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Etwa nach einer Scheidung.

Schutzregeln aufgehoben

Bislang gab es aber Schutzmechanismen. Zum Beispiel die sogenannte «45er-Regel»: Wenn eine Frau während der Ehe nicht berufstätig und bei der Scheidung schon 45 Jahre alt war, haben ihr die Gerichte den Einstieg in den Arbeitsmarkt nicht mehr zugemutet. Ähnliches galt, wenn eine Hausfrau mindestens zehn Jahre verheiratet war. In der Folge musste der frühere Ehemann entsprechende Unterhaltszahlungen leisten.

Doch mit diesen pauschalen Regeln soll jetzt Schluss sein. Laut dem Bundesgericht können grundsätzlich auch bisherige Frauen, die älter als 45 Jahre alt sind, auf Stellensuche gehen. Es sei denn, konkrete Gründe sprechen dagegen – etwa die Betreuung von Kleinkindern.

Druck auf Hausfrauen steigt

Die Gerichtsurteile widerspiegelten eine Entwicklung der letzten Jahre, sagt Andrea Büchler, Rechtsprofessorin an der Universität Zürich: «Es geht im Wesentlichen darum, dass die Ehe nicht mehr als Versorgungsinstitution gesehen wird. Sondern es wird an die finanzielle Eigenverantwortung von Partner und Partnerin appelliert, die vor allem dann aktuell wird, wenn die Ehe zu Ende geht.»

Die Ehe wird nicht mehr als Versorgungsinstitution gesehen.
Autor: Andrea Büchler Rechtsprofessorin, Universität Zürich

Jeder und jede soll also nach der Scheidung für sich selber sorgen können – das passt ja durchaus zum Grundsatz der Gleichstellung der Geschlechter. Und die Rechtssprechung knüpft durchaus an gesellschaftliche Entwicklungen an.

Tradition und neue Rollenmodelle

Trotzdem bestehe hier eine gewisse Ambivalenz, betont Büchler. So gebe es eine immer höhere Beteiligung der Frauen im Erwerbsarbeitsmarkt und eine Zunahme egalitärer Rollenmodelle in Familien. In der Schweiz sei allerdings auch das traditionelle Rollenmodell nach wie vor verbreitet.

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist noch immer nicht in genügendem Masse gewährleistet.
Autor: Andrea Büchler Rechtsprofessorin, Universität Zürich

«Dies nicht zuletzt, weil die Schweiz diese Frage auch sehr stark privatisiert», erklärt Büchler. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sei nämlich von Politik und Wirtschaft her noch immer nicht in genügendem Masse gewährleistet. Und so lange das so sei, würden sich in der Realität weiter eine Reihe von Frauen nach der Familiengründung vom Erwerbsleben zurückziehen.

Info 3, 09.03.2021, 12:00 Uhr

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