Die Kantonsverfassung ist – vereinfacht gesagt – ein Dokument, welches unser Zusammenleben regelt. Und weil sich die Gesellschaft stetig verändert, wird sie laufend angepasst. Ein schweizweiter Vergleich zeigt: Fast alle Kantone haben ihre Verfassung in den letzten 60 Jahren total revidiert, also nicht nur einzelne Artikel verändert. Drei Kantone jedoch stützen sich auf eine Verfassung, die über 100 Jahre alt ist: Appenzell Innerrhoden, das Wallis und Zug. Das Wallis hat einen Entwurf für eine neue Verfassung eben erst deutlich abgelehnt. Warum sträuben sich manche Kantone hartnäckig gegen Neuerungen? Politologe Sean Müller liefert Antworten am Beispiel des Wallis.
SRF News: In den letzten 60 Jahren haben praktisch alle Kantone ihre Verfassungen total revidiert – bis auf das Wallis, Appenzell Innerrhoden und Zug. Warum hinken die drei hinterher?
Sean Müller: In diesen Kantonen spielt sicher der Katholizismus eine Rolle – er bringt einen Konservatismus mit sich. Die Leute sind gegenüber Veränderungen skeptisch eingestellt und eher bereit, unter einer älteren Verfassung zu leben. Gleichzeitig gibt es katholische Gebiete, die sehr offen sind für Veränderungen, etwa der Jura.
Hat die Skepsis gegenüber Veränderungen auch beim Nein-Entscheid im Wallis mitgespielt?
Der Verfassungsentwurf enthielt zahlreiche Neuerungen, darunter Elternzeit, Klimaneutralität und eine Reorganisation des Kantons in sechs Regionen anstatt 13 Bezirken – eine Vielzahl von Dingen, gegen die man sein kann. Wer Ja stimmte, musste mit allen 190 Artikeln zufrieden sein. Und das war wohl bei vielen nicht der Fall.
Vor sechs Jahren war das Wallis dafür, dass ein 130-köpfiger Rat einen Entwurf für eine total revidierte Verfassung ausarbeitet. Jetzt hat der Kanton diesen deutlich abgeschmettert – was ist geschehen?
Zum einen lässt sich sagen: Viele, die damals für eine neue Verfassung gestimmt hatten, wussten ja nicht, was dabei herauskommt und waren unzufrieden mit den Neuerungen. Andererseits hat auch das Prozedere, wie der Entwurf zustande kam, eine Rolle gespielt.
Das Stimmvolk war unzufrieden mit den Neuerungen.
Die neue Verfassung wurde ja nicht vom Parlament, sondern von einem eigens dafür gegründeten Gremium ausgearbeitet – und dieses wurde nach getaner Arbeit aufgelöst. So kam es, dass niemand diesen Entwurf vor dem Volk verteidigte. Die Verantwortlichkeit fehlte.
Hat der Verfassungsrat also für den Papierkorb gearbeitet?
Ich erwarte jetzt erst einmal Ruhe, was die Neuerungen angeht. Kaum jemand wird ein Anliegen auf normalem Weg – etwa durch eine Motion – weiterverfolgen. Auf den Zusammenhalt innerhalb des Kantons kann sich das Nein jedoch positiv auswirken.
Nun bleibt also die Verfassung von 1907. Ist sie tatsächlich so alt?
Nein. Sie wurde seither x-mal verändert – einfach partiell. Das ist möglich durch Initiativen oder obligatorische Referenden.
Sollten Verfassungen nicht möglichst stabil sein?
Normalerweise sagt man, die Verfassung sei das Grundwerk eines Staats. Aber die Verfassungen in der Schweiz sind eher Arbeitsdokumente. Das erschwert eine Totalrevision. Weil es dann gute Argumente braucht, weshalb eine Verfassung – trotz ständigen Anpassungen – komplett neu gestaltet werden muss.
Das Gespräch führte Christine Widmer.