Freie Willensbildung und unbeeinflusste Stimmenabgabe verlangt das Bundesgesetz über die politischen Rechte. Dazu zählt auch, dass Amtseinrichtungen Aktionen zu unterlassen haben, welche die Stimmabgabe beeinflussen können. Zum Beispiel die vorzeitige Bekanntgabe von Abstimmungsresultaten. Seit Jahren fungieren indes verschiedene Kleingemeinden, vornehmlich im Aargau und in Graubünden, als Prognoseinstrumente. Ihre Wahllokale schliessen bereits zwischen 9 und 11 Uhr. Während andernorts noch lange Schlangen vor den Wahllokalen stehen, weiss die Welt von Attelwil (AG) bereits, was Sache ist.
Die Bürger vor dem Wahllokal im Zürcher Hauptbahnhof beispielsweise könnten so in ihrer Stimmabgabe beeinflusst werden. Ein solcher Vorgang würde gegen das Bundesgesetz verstossen. Umstände, die bei den Wahlen vom Wochenende in verschiedenen User-Foren zu Diskussionen geführt haben.
Dem Bund sind die Hände gebunden. Oder genauer: «Weil dieser Sachverhalt lediglich einen Bruchteil der Schweizer Gemeinden [...] betrifft, erscheinen organisatorische Vorkehrungen [...] derzeit als richtiges Mittel. [...] Eine bundesrechtliche Regelung drängt sich zumindest gegenwärtig nicht auf,» heisst es in der Antwort auf die Anfrage von Ständerat Raphaël Comte (FDP/NE).
Auf den Punkt gebracht erachtet der Bundesrat die frühzeitige Bekanntgabe von Resultaten zwar als problematisch. Aber die «organisatorischen Vorkehrungen» scheinen dem Bundesrat ausreichend zu sein. Mit diesen Vorkehrungen meint er das Kreisschreiben der Bundeskanzlei an die kantonalen Wahlbehörden im Vorfeld der Abstimmung, wie Beat Furrer berichtet. Er ist Informationsbeauftragter beim Bund.
In diesem Schreiben weist der Bund darauf hin, dass frühzeitige Bekanntgaben von Abstimmungs- und Wahlresultaten mit Blick auf die freie Willensbildung und die unbeeinflusste Stimmenabgabe in den Gemeinden zu vermeiden sind (siehe Punkt 5 der Empfehlungen des Kreisschreibens des Bundes). «Mehr kann der Bund nicht machen», sagt Furrer, «die Organisation von Abstimmungen und Wahlen in den Gemeinden obliegt den jeweiligen Kantonen.»
Bund an die Kantone
Experten mit unterschiedlichen Zugängen erleichtern es den Verantwortlichen nicht gerade, in dieser Sache Nägel mit Köpfen zu machen. Der Politologe Lukas Golder räumt ein, dass man sich unter Politologen nicht einig ist. Als Co-Leiter des Meinungsforschungsinstituts gfs.bern kennt er sich aus mit Prognosen, Trend- und Hochrechnungen. Einige seiner Forscherkollegen sind aber der Meinung, dass Abstimmungsergebnisse durch diese Praxis kaum verändert werden und dass es darum müssig ist, darüber zu debattieren.
Golder ist sich da nicht sicher. Er plädiert für die Einheitlichkeit des Verfahrens. Wenn die meisten Gemeinden der Schweiz sich auf 12 Uhr für die Bekanntgabe einigen, sollte es möglich sein, das schweizweit einzuhalten. «Es ist in Ordnung über Abstimmungsbeteiligungen vor Urnenschluss zu berichten», findet Golder, «Das kann andere noch zum Abstimmen motivieren.» Aber expliziete Werte zu kommunizieren, das könne einen Bürger beeinflussen und das sei eben nicht rechtens, findet der Politologe.
Gerade mit dem Recht ist es aber so eine Sache , weiss derjenige, an dessen Adresse die Bedenken Golders gerichtet sind: Peter Buri, Regierungssprecher des Kantons Aargau. Bei eidgenössischen Abstimmungen fehlt dem Kanton schlicht die rechtliche Grundlage, um gegen Gemeinden vorzugehen, die sich nicht an die vom Bund gewünschten Sperrfristen halten. «Hier bräuchte es bundesrechtliche Instrumente», gibt Buri zu bedenken.
Der Kanton übermittelt jeweils in einem eigenen Kreisschreiben an die Gemeinden die Empfehlungen aus der Bundeskanzlei. Samt einheitlicher Bekanntgabefrist um 12 Uhr und der Bitte, diese einzuhalten. «Mehr können wir bei eidgenössischen Abstimmungen auf der vorhandenen gesetzlichen Grundlage auch nicht machen», sagt Buri.
Im Aargau sind die Urnen – im Gegensatz zu vielen andern Kantonen - nur bis 11 Uhr offen. Das heisst, dass viele, vor allem auch kleinere Gemeinden bereits um 9 oder 9.30 Uhr die Urnen schliessen. «Viele dieser Gemeinden warten dann nicht bis 12 Uhr, bis sie die Resultate auf ihrer Webseite publizieren oder – wie seit vielen Jahrzehnten gewohnt – im Glaskasten beim Gemeindehaus aushängen», sagt Buri.
Im Zeitalter von Handy und Socialmedia ist das Resultat dann aber auf alle Fälle öffentlich. Ändern wird sich an dieser uneinheitlichen Praxis wohl spätestens dann etwas, wenn die frühe Bekanntgabe von Ergebnissen zu einer Stimmrechtsbeschwerde führen sollte. Dann könnte es am Schluss das Bundesgericht sein, dass die Einhaltung der Verordnung erzwingt.