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Vom EWR bis zum Rahmenabkommen Peter Bodenmann über das Leiden der Linken an Europa

30 Jahre beträgt die Sperrfrist für Bundesratsakten, was bedeutet, dass nun die internen Protokolle aus dem Jahr 1991 öffentlich zugänglich sind. Und 1991 war ein spannendes Jahr, denn damals liefen die Verhandlungen zum Europäischen Wirtschaftsraum EWR. Was dem Bundesrat durchaus schwer fiel, wie die jetzt publizierten Akten zeigen. Auch unter den beiden SP-Magistraten René Felber und Otto Stich herrschte Uneinigkeit. Der damalige SP-Präsident Peter Bodenmann blickt zurück auf die europapolitische Weichenstellung von damals – und den Scherbenhaufen von heute.

Peter Bodenmann

Ehemaliger SP-Präsident

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Der Walliser Sozialdemokrat Peter Bodenmann sass von 1987 bis 1997 im Nationalrat. Von 1990 bis 1997 war er Präsident der SP Schweiz. 1997 wurde er als erster Sozialdemokrat in den Walliser Staatsrat gewählt. 1999 zog er sich aus der Politik zurück. Seither ist Bodenmann als Hotelier in Brig/VS tätig und bringt sich als Kolumnist in politische und gesellschaftliche Debatten ein.

SRF News: Wie gingen Sie als Parteipräsident mit den unterschiedlichen Positionen der beiden SP-Bundesräte um?

Peter Bodenmann: Als Partei haben wir frühzeitig eine Position erarbeitet. Diese ging davon aus, dass es sinnvoll wäre, über den EWR in die EU zu gehen. Der Prozess wäre mit Problemen verbunden gewesen, die wir gegenüber der EU hätten ansprechen und mittels EU-kompatiblen flankierenden Massnahmen lösen wollten. René Felber war sehr euphorisch. Er wollte nie etwas von flankierenden Massnahmen hören, während Otto Stich – geprägt vom Zweiten Weltkrieg – im Herzen ein Helvetier war und blieb. Deswegen war Stich grundsätzlich EWR-kritisch. Fakt ist: Beide haben am Schluss Ja gesagt zum EWR, wie die jetzt veröffentlichten Protokolle belegen.

Für die Partei war das Problem, dass René Felber nicht begreifen wollte, wie flankierende Massnahmen funktionieren. Das ist eine Krankheit, die bis heute vielen in der Sozialdemokratie anhaftet.
Autor:

Wurden Sie aktiv und haben sich Otto Stich zur Brust genommen?

Man konnte sich Otto Stich nicht zur Brust nehmen. Aber die damalige SP-Fraktionschefin Ursula Mauch und ich als Parteipräsident haben Druck auf unsere Bundesräte ausgeübt. Bei Otto Stich mit Erfolg – bei René Felber ohne jeden Erfolg.

Tief gespaltener Bundesrat bei der Europa-Frage

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Gesamtbundesrat 1991
Legende: Keystone/Archiv

Die Meinungen im Bundesrat gingen weit auseinander.
Während die beiden Westschweizer Jean-Pascal Delamuraz von der FDP und René Felber von der SP auch intern die positiven Aspekte eines EWR-Vertrags herausstrichen, waren ihre Parteikollegen in der Regierung wesentlich kritischer.

Bei den Verhandlungen drohe ein schlechter Vertrag herauszukommen, warnte Sozialdemokrat Otto Stich im Frühling 1991 in einer Besprechung. Der Freisinnige Kaspar Villiger hatte laut den Protokollen den Eindruck, die Schweiz befinde sich auf dem Weg eines Kolonialstaates mit Autonomiestatut.

Es gab vor allem Bedenken, dass die Schweiz mit dem EWR Entscheidungen aus Brüssel übernehmen müsste, ohne mitentscheiden zu können. Die jetzt freigegebenen Bundesratsakten zeigen auch, dass schon damals intern diskutiert wurde, ob Verhandlungen für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft der bessere Weg wären. Und das war ein Jahr bevor der Bundesrat sein Beitrittsgesuch nach Brüssel geschickt hatte.

Die Fortsetzung ist bekannt: Im Abstimmungskampf für einen EWR-Beitritt trat der Bundesrat zwar geschlossen auf. Aber die Widerstand war stark. Aus unterschiedlichen Motiven bekämpften SVP wie Grüne das Vertragswerk. Letztere fürchteten eine Lastwagen-Lawine, während sich erstere Sorgen um die Souveränität und Neutralität der Schweiz machten.

Und immer schwang auch die Befürchtung mit, dass der EWR früher oder später in die EU führen würde. In der Volksabstimmung im Dezember 1992 sagte die Stimmbevölkerung knapp «Nein» zum EWR. (Elmar Plozza)

René Felber hat im Oktober 1992 gesagt, dass dieser Vertrag bloss eine Etappe auf dem Weg zum klaren Ziel sei: Der vollständigen Integration der Schweiz in die Europäische Gemeinschaft. Was dachten Sie, als Sie das hörten?

Für die Partei war das kein Problem. Für die Partei war das Problem, dass René Felber nicht begreifen wollte, wie flankierende Massnahmen funktionieren. Das ist eine Krankheit, die bis heute vielen in der Sozialdemokratie anhaftet.

Er schadete also damit der Sache?

Wie alle anderem im Bundesrat auch. Der Bundesrat hat sich geweigert, die Opposition gegen den EWR ernst zu nehmen. Er hat sich geweigert zu sehen, dass ein Integrationsprozess immer mit Problemen verbunden ist – dass man diese Probleme aber lösen kann. Wir haben jetzt, dreissig Jahre später, genau das gleiche Problem mit dem Rahmenabkommen.

Dodis – die diplomatischen Dokumente der Schweiz

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Die Forschungsstelle Dodis ist das unabhängige Kompetenzzentrum für die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik und der internationalen Beziehungen der Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates 1848. In diesem Rahmen betreibt Dodis Grundlagenforschung zur Zeitgeschichte.

Nach zwei Editionen zur Schweiz nach der Gründung des Bundesstaates und ihrer Rolle im Kalten Krieg startet Dodis nun eine dritte Edition. Fokus: Die Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges. Der zweite Band ist soeben erschienen und widmet sich dem Jahr 1991. Für die nächsten Jahre sind im Jahresrhythmus weitere Bände zur Schweizer Geschichte nach dem Ende des Kalten Krieges geplant, um die jeweils neusten Dokumente der Zeitgeschichte nach dem Ende der 30-jährigen Sperrfrist einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Das Rahmenabkommen wurde ja auch vom gewerkschaftlichen Flügel der SP quasi abgeschossen. Er war der Ansicht, dass das Abkommen die flankierenden Massnahmen gefährde. Wie gespalten ist die SP heute?

Damals lag der Fall anders. Die Gewerkschaften haben unsere Logik mitgetragen. Heute haben Gewerkschaften und SP für mich nicht nachvollziehbare Probleme. Zusammen mit der SVP haben sie das Rahmenabkommen versenkt. Und was bekommen sie zum Dank? Abschaffung der Stempelsteuer und der Verrechnungssteuer, Erhöhung des AHV-Frauenalters und Senkung des Umwandlungssatzes. Man hätte einen Kompromiss machen können und sollen: Rahmenabkommen plus 24 Franken Mindestlohn plus schneller ökologischer Umbau. Beides wurde verpasst.

Wenn Sie die Situation von heute mit derjenigen von vor dreissig Jahren vergleichen: Wo sehen Sie die grössten Unterschiede?

Heute gibt es keine relevante Bewegung für einen EU-Beitritt mehr. Damals war es anders. In der welschen Schweiz war der EU-Beitritt hoch im Kurs. Heute ist das nicht mehr der Fall.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

Echo der Zeit, 03.01.2022, 18 Uhr ; 

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