- Eine Studie im Auftrag des Bundes warnt vor einer deutlichen Unterversorgung bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen.
- Die Wartefrist ist von Fall zu Fall verschieden, beträgt im Schnitt sieben Wochen.
- Lösungsansätze scheitern oft an der Finanzierung.
Die heute 22-jährige Chantal Hofstetter litt während Jahren an Borderline, an Magersucht, ritzte sich die Arme auf, hatte Suizidgedanken. Trotzdem fand sie keinen geeigneten Therapieplatz. Sie wurde von Klinik zu Klinik verschoben, von Kanton zu Kanton, von Therapeut zu Therapeut. Und verlor deswegen fast den Lebensmut.
Das lange Warten
Chantal Hofstetter ist kein Einzelfall. Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit BAG kommt zum Schluss, dass bei psychisch kranken Kindern und Jugendlichen eine deutlichen Unterversorgung besteht.
Die Studie
Mangels Daten lässt sich das Ausmass der Behandlungslücke zwar nicht genau beziffern. Doch eine repräsentative Befragung von Psychiaterinnen und Kinderärzten sowie Interviews mit Betroffenen zeigen: Es gibt für Kinder und Jugendliche lange Wartefristen von durchschnittlich sieben Wochen. Was insbesondere für Betroffene in Krisen- und Notfallsituationen problematisch sei.
Ein Teufelskreis
Der Mangel zeigt sich auch bei einem Besuch in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Zürich. Zwar können in der wöchentlichen Fallverteilung alle Kinder und Jugendliche für ein Erstgespräch eingeteilt werden. Doch die Therapeutinnen und Therapeuten der Klinik sind chronisch überlastet und haben zum Teil auch lange Wartezeiten. «Therapeuten ausserhalb der Klinik zu finden, ist zudem äusserst schwierig», weiss die stellvertretende Klinikdirektorin Dagmar Pauli.
Durch die Wartefrist würden sich viele psychische Störungen verschlimmern. Die müssten dann intensiver behandelt werden und binden so wieder freie Kapazitäten für andere Betroffene – ein Teufelskreis.
Probleme erkannt, Lösungen nicht in Sicht
Wo die Probleme liegen, ist eigentlich klar:
- Zu wenig Kinder-Psychiater. Während die Schweiz für Erwachsene im europäischen Vergleich die höchste Dichte von Psychiatern aufweist, fehlen diese für Kinder und Jugendliche. Modellrechnungen zeigen zudem, dass sich dieser Mangel noch verschärfen könnte.
- Zu wenig ambulante Angebote. Zwar gibt es in einigen Kantonen Ambulatorien oder innovative Modellprojekte wie das Home-Treatment, wo Fachleute für erste Gespräche zu den Kindern und Jugendlichen nach Hause kommen. Doch die Finanzierung solcher Modelle ist oft nicht nachhaltig gesichert.
- Zu wenig Entlastung durch andere Fachpersonen. Beispielweise könnte man nichtärztliche Psychologinnen und Psychologen besser einbeziehen. Dafür müsste eine Therapie bei ihnen aber einfacher von der Grundversicherung bezahlt werden, stellt der Bericht fest. Das verantwortliche Bundesamt für Gesundheit ist nun daran, «vertiefte Abklärungen zu treffen», während der Krankenversicherer-Verband santésuisse auf Anfrage ausrichten lässt, es bestehe aufgrund der heutigen Erkenntnisse «kein Anlass für eine Änderung des Abrechnungsmodus‘».
Die Probleme sind also erkannt. Doch was Lösungen angeht, so schieben sich die Therapeuten, der Bund, die Kantone und andere Akteure wie Krankenversicherer den Ball gegenseitig zu. Denn immer geht es um das liebe Geld.
Happy End für Chantal Hofstetter
Chantal Hofstetter hatte Glück: Sie fand nach einer über zweijährigen Odyssee schliesslich doch noch einen geeigneten Platz für eine Langzeittherapie. Anschliessend konnte sie trotz fehlendem Schulabschluss eine Lehre machen und ist nun seit zwei Jahren psychisch stabil. «Klar habe ich immer mal wieder meine Tiefs», sagt sie, «aber Selbstverletzung oder Suizidgedanken sind kein Thema mehr.»
Hätte Chantal Hoftstetter früher einen Therapieplatz gefunden, hätte ihr das nicht nur viel Leid erspart, sondern es wäre mutmasslich auch für die Allgemeinheit günstiger gekommen. Denn, so rechnet die Psychiaterin Dagmar Pauli vor: Wenn man früher behandelt, kann man auch kürzer und weniger intensiv behandeln. Und schafft so Therapieplätze für andere Betroffene.