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Wenn Pfleger zu Mördern werden «Ein Restrisiko bleibt immer»

Vor 16 Jahren wurde die Mordserie eines «Todesengels» in der Zentralschweiz aufgedeckt. Der ehemalige Leiter des Betagtenzentrums Eichhof zu den Lehren von damals.

Mitte der 1990er-Jahre nimmt in den Alters- und Pflegeheimen von Sarnen, Küssnacht und Luzern eine Tötungsserie ihren Lauf, die sich zur grössten der Schweizer Geschichte auswachsen sollte. Ein junger Pfleger verabreicht wehrlosen alten Menschen ein Beruhigungsmittel. Viele von ihnen leiden an Demenz. Dann erstickt er sie mit Tüchern oder Plastiksäcken.

Erst schöpft niemand Verdacht, der Tod gehört in den Altersheimen zum Alltag. Als sich die Todesfälle während der Arbeitszeit des Pflegers häufen, nimmt ihn die Polizei fest. Der Beschuldigte gibt zu, mindestens 27 Menschen umgebracht zu haben. Aus Mitleid und Überforderung, wie er sagt. Das Luzerner Kriminalgericht sieht es anders: Der Täter habe die «systematische Beseitigung pflegebedürftiger Menschen» ohne Skrupel verfolgt.

Aus Mangel an Beweisen können dem Pfleger «nur» 22 Morde und vorsätzliche Tötungen nachgewiesen werden. Er muss lebenslänglich ins Gefängnis.

Verdachtsäusserungen müssen vom Führungspersonal ernst genommen werden.
Autor: Marco Borsotti

Marco Borsotti übernahm ein Jahr nachdem dem Todesengel das Handwerk gelegt wurde die Leitung des Luzerner Betagtenzentrums Eichhof. Dort hatte der Pfleger zuletzt gearbeitet. Es sei eine «ganz tragische Situation» gewesen, erinnert sich Borsotti: «Für die Angehörigen und den Betrieb war es sehr belastend.»

In Deutschland sprengt derzeit der Fall eines bereits verurteilten Patientenmörders die Grenzen des Vorstellbaren: Er könnte bis zu 90 Menschen getötet haben. Borsotti, Vorstandsmitglied beim Verband Schweizer Pflegeheime Curaviva, ist schockiert: «Es ist nicht normal, dass so viele Menschen sterben müssen, bis ein derartiger Fall auffliegt.»

Dass wieder ein Pfleger systematisch gemordet hat, überrascht Borsotti aber nicht: «Es passiert, und man weiss es.» Die Täter würden raffinierte Methoden anwenden und ihr Tötungshandwerk immer weiter verfeinern. Um das Risiko zu minimieren, hat Borsotti nach seiner Ankunft im Betagtenzentrum Eichhof versucht, «gemeinsam mit Führungspersonen auf die Fehlerkultur Einfluss zu nehmen und Prozesse auf ihre Klarheit hin zu überprüfen.»

So wurden etwa die Abläufe bei der Medikamentenabgabe klarer definiert: Eine schriftliche ärztliche Verordnung muss vorliegen, die Pflegepersonen müssen absolute Ruhe bei der Vorbereitung bei der Medikamente haben, dann vergleicht ein Kollege oder eine Kollegin die ärztliche Verordnung mit dem vorbereiteten Medikament. Zuletzt müsse alles sauber und nachvollziehbar dokumentiert werden.

Entscheidend sei die Sensibilisierung beim Pflegepersonal: «Die Pflegerinnen und Pfleger müssen sich bewusst sein, dass solche furchtbaren Taten passieren können.» Borsotti ist aber überzeugt, dass in der Ausbildung genug getan werde, um die jungen Menschen vorzubereiten.

Die Schuldfrage

Doch auch das Führungspersonal seien aufgerufen, wachsam zu sein: «Verdachtsäusserungen müssen ernst genommen werden. Es darf nicht verurteilt werden: Die Situation muss im Gespräch mit den Beteiligten geklärt werden.» Dabei sei eine offene Fehler- und Kommunikationskultur in den Betrieben unabdingbar. Ein, wie Borsotti schildert, weiter Weg.

Im Fall des «Todesengels von Luzern» wurde auch der Heimarzt zur Verantwortung gezogen. In Deutschland müssen sich zwei frühere Oberärzte und der Stationsleiter vor Gericht rechtfertigen: Ihnen wird vorgeworfen, den mordenden Pfleger unbeaufsichtigt gelassen zu haben.

Absolute Sicherheit gibt es nicht

Für Borsotti ist abseits der Schuldfrage klar, dass es zwischen Ärzten und Pflegepersonal eine enge Zusammenarbeit braucht: «Auch die Ärzte müssen sich als Bestandteil des Teams verstehen: Ärzte und Pfleger sind gemeinsam für die adäquate Betreuung der Bewohner zuständig. Dazu gehören saubere Verordnungen und Dokumentationen (der verordneten Medikamente).»

Doch absolute Sicherheit gebe es nie, sagt Borsotti abschliessend: «Ich bin überzeugt, dass die Betriebe das Bestmögliche tun, um solche Fälle zu verhindern. Aber ein Restrisiko gibt es immer.»

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