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Willenserklärung im Notfall «Patientenverfügung genügt in komplexen Situationen oft nicht»

Das nationale Organspende-Register Swisstransplant weist massive Sicherheitsmängel auf. So ist es möglich, jede Person ohne ihr Wissen zur Organspenderin zu machen, wie Recherchen von SRF Investigativ zeigen. Auch hier kann eine Patientenverfügung Abhilfe schaffen. Diese Willenserklärung zu medizinischen Behandlungen soll in Notfällen Klarheit schaffen. Doch wie hilfreich ist sie in der Praxis? Renato Lenherr, Intensivmediziner am Universitätsspital Zürich, schildert Situationen, in denen die Patientenverfügung nicht ausreicht.

Renato Lenherr

Oberarzt Institut für Intensivmedizin, Universitätsspital Zürich

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Renato Lenherr studierte Medizin an der Universität Zürich. Er absolvierte bis 2010 den Facharzt Anästhesiologie und den Facharzt Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich (USZ) und ist seit 2011 Oberarzt am Institut für Intensivmedizin USZ. 2013 übernahm er die ärztliche Leitung der Donor Care Association (DCA). Diese wurde 2012 gebildet. Das Team ist dem Universitätsspital Zürich angegliedert.

SRF News: Wie hilfreich ist eine Patientenverfügung für Sie als Arzt?

Renato Lenherr: Wenn eine Verfügung vorhanden ist, zeigt diese in eine gewisse Richtung, was der Patient oder die Patientin gewünscht hat. Dies kann in Situationen auf der Intensivstation, wo der Patient meist bewusstlos ist, hilfreich sein – doch es genügt in komplexen Situationen oft nicht. Wir müssen berücksichtigen, was das Ziel des Patienten war, wenn er zum Beispiel in der Verfügung schreibt, dass er lebenserhaltende Massnahmen möchte. Dabei müssen die Ärzte die Prognose mit den erwarteten Einschränkungen abschätzen und die Angehörigen entscheiden, ob dies den Ansprüchen des Bewusstlosen entspräche.

Die besten Patientenverfügungen sind jene, die sehr ausführlich sind und mit jemandem aus dem privaten Umfeld besprochen wurden.

Neuere Patientenverfügungen geben mehr Auskunft über die Wünsche der Patienten – zum Beispiel, ob Ärzte Therapien oder lebenserhaltende Massnahmen anwenden sollen, wenn man zu einem gewissen Risiko pflegebedürftig werden könnte. Die besten Patientenverfügungen sind jene, die sehr ausführlich sind, verschiedene Ausgangslagen berücksichtigen und am besten mit jemandem aus dem privaten Umfeld besprochen wurden.

Wie oft kommt es vor, dass es Differenzen gibt zwischen Patientenverfügung und dem, was die Angehörigen entscheiden?

Es kommt selten vor, dass in einer Patientenverfügung genau steht, was der Patient wollte und was nicht. Schwierig wird es vor allem dann, wenn ein Wunsch zwar in der Patientenverfügung steht, in der aktuellen Situation jedoch schwer zu deuten und anzuwenden ist. Da wird das Erstellen von Therapieplänen oder der Entscheid, ob eine Therapie fortgesetzt werden soll oder nicht, deutlich komplexer.

Schwierig wird es, wenn ein Wunsch zwar in der Patientenverfügung steht, in der aktuellen Situation jedoch schwer zu deuten und anzuwenden ist.

Wenn ein Wunsch in der Patientenverfügung nicht genau ausgedrückt wurde, haben die Angehörigen manchmal Mühe loszulassen – auch wenn es ziemlich klar ist, dass dies im Sinne des Patienten wäre. Deshalb kommt es manchmal vor, dass eine Therapie doch noch fortgesetzt wird, weil die Angehörigen den Patientenwunsch so deuten oder noch Zeit brauchen für die schwierige Entscheidung.

Ist eine Patientenverfügung in Stein gemeisselt?

Grundsätzlich ja, aber Fehler können auch hier passieren – dass beispielsweise ein Kreuz falsch gesetzt wurde bei der Organspendefrage. Wir hatten einmal einen Fall mit einem über 80-jährigen Mann, der einen Herzinfarkt erlitten hatte. Er kam ins Spital und landete auf der Intensivstation. Nach seinem Tod kam die Frage der Organspende auf, woraufhin seine Frau meinte, dass er zu Lebzeiten immer gegen die Organspende gewesen sei.

Dann tauchte aber eine zwei Wochen alte Patientenverfügung vom Hausarzt auf, in der stand, dass er seine Organe spenden wollte. Seine Frau sagte daraufhin, dass dies mit Sicherheit ein Missverständnis sei und wir haben ihr nach weiteren Abklärungen, unter anderem mit der Ethik und dem Rechtsdienst, geglaubt und von einer Organspende abgesehen.

Können Angehörige entscheiden, dass keine Organspende am Verstorbenen stattfindet – trotz anders lautender Patientenverfügung?

Die Frage der Organspende stellt sich ganz am Schluss und hat meistens eine lange Vorgeschichte – mit Unfall, Spitalaufenthalt und dem Versuch, den Patienten am Leben zu erhalten. Inmitten der Trauer der Angehörigen um den Verstorbenen kommt die Frage auf. Bei Gesprächen mit Angehörigen ist es hilfreich, wenn wir etwas vom Patienten haben, wo steht, was er wollte. Trotzdem sind Fehler in der Patientenverfügung möglich. Ein Kreuz kann am falschen Ort landen, wie das Beispiel der Witwe des 80-jährigen Mannes zeigt. Ein sorgfältiges Gespräch bringt solche Fehler meist schnell ans Licht. Aber die Angehörigen können nicht gegen eine Organspende des Verstorbenen entscheiden, wenn er das klar gewollt hätte.

Das Gespräch führte Saya Bausch.

Kassensturz, 18.01.2022, 21:05 Uhr ; 

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