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Zwangseinweisung in Klinik «Die Schweiz hat ein hohes Ordnungsbedürfnis in der Gesellschaft»

Ein psychisch auffälliger Mann verletzte letzte Wochen Menschen mit einer Motorsäge. Für die Öffentlichkeit stellt sich die Frage, wieso er nicht einer entsprechenden Einrichtung lebte. Werden in der Schweiz zu wenig Leute weggesperrt?

Etwa 11'000 Fälle der so genannten fürsorgerischen Unterbringung gab es im Jahr 2014, schätzt das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan von Bund und Kantonen. Eine verlässliche Statistik existiert nicht, und auch internationale Vergleiche sind mit Vorsicht zu geniessen, da jedes Land wieder anders zählt.

Matthias Jäger ist leitender Arzt an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Er sagt dazu: «Dennoch kann man sicherlich sagen, dass man in der Schweiz einen relativ hohen Anteil an fürsorgerischen Unterbringungen hat. In der Schweiz liegen wir mit ungefähr 135 Einweisungen pro 100’000 Einwohner relativ weit oben im internationalen Vergleich.»

Raschere Überprüfung im Ausland

Die Ursachen liegen zum einen in der Art, wie Länder solche Fälle unterschiedlich zählen. Zum anderen aber haben die meisten anderen Länder Zwangseinweisungen in die Psychiatrie anders geregelt: «In anderen europäischen Ländern werden mit wenigen Ausnahmen die prozeduralen Kriterien sehr viel strenger gehandhabt.»

So werde in anderen Ländern eine fürsorgerische Unterbringung durch einen Arzt meist innerhalb von nur 72 Stunden von einer Behörde überprüft, zum Beispiel von einem Gericht. In der Schweiz hingegen dauert es bis zu sechs Wochen, bis die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine definitive Unterbringung anordnen kann. Wenn der Patient von sich aus schon vorher vor Gericht geht, kann es auch vorher sein.

Föderalismus auch bei Zwangseinweisungen

Auch innerhalb der Schweiz gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Kantonen. So kann in gewissen Kantonen ausschliesslich ein Amtsarzt einen Menschen gegen seinen Willen einweisen lassen. In anderen Kantonen wiederum dürfen das nur Psychiater und mancherorts können schlicht alle Ärzte eine Zwangseinweisung anordnen.

Da gehe der Kantönligeist definitiv zu weit, kritisiert der Leiter der KESB Basel-Stadt, Patrick Fassbind: «Es braucht hier eine Professionalisierung, es sollten nicht alle Ärzte solche Unterbringungen vornehmen können, sondern nur bestimmte, vor allem nur Psychiater oder speziell geschulte Personen.»

Überhaupt gehe es nicht an, dass es quasi vom Wohnort abhängen könne, ob jemand eingewiesen werde oder nicht. «Es ist eines Rechtsstaats unwürdig, dass in einem so wichtigen Bereich – es geht hier um die Unterbringung von Personen gegen ihren Willen – so grosse Unterschiede zwischen den Kantonen bestehen», sagt Fassbind.

Zurückhaltendere Behörden

Allerdings legten Ärzte und KESB in jüngerer Zeit mehr Zurückhaltung bei Zwangseinweisungen an den Tag, stellen alle Beobachter fest.

Die Zahlen trägt Daniela Schuler vom Obsan zusammen. Ärzte und KESB seien vorsichtiger geworden, hält auch sie fest. Sie seien sensibilisiert. «In den letzten Jahren wurde vermehrt über fürsorgerische Unterbringungen diskutiert. Entsprechend gehen auch die Kliniken heute bewusster mit einer fürsorgerischen Unterbringung um als früher.»

«Geringe Toleranz für auffälliges Verhalten»

Der leitende Arzt an der PUK Zürich, Matthias Jäger, bestätigt, dass Ärzte und Behörden heute mehr nach Alternativen suchten, es gebe auch mehr Angebote ausserhalb von Kliniken, in Tageskliniken etwa oder bei der Behandlung zu Hause.

Ob es heute zu viel oder zu wenig fürsorgerische Unterbringungen gebe, komme auf die Perspektive an, sagt Jäger. Aber: «Man kann in der Schweiz ja schon ein vergleichsweise hohes Ordnungsbedürfnis in der Gesellschaft und eine im internationalen Vergleich vielleicht auch geringere Toleranz für sehr auffälliges Verhalten in der Gemeinde beobachten. Dass dadurch dann eben auch mehr Menschen, vielleicht niederschwelliger, untergebracht werden, ist sicher ein Punkt, der zu diskutieren wäre.»

Stark ansteigende Zahlen

Die neusten, noch unpublizierten Zahlen des Obsan, die Radio SRF vorliegen, zeigen wieder in eine andere Richtung, nämlich steil nach oben. Von knapp 14‘000 Fällen einer fürsorgerischen Unterbringung im Jahr 2015 ist beim Obsan die Rede. Das käme einer Steigerung um fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr gleich.

Die Gründe dafür kennen die Fachleute noch nicht. Möglicherweise handle es sich schlicht um Unschärfen bei der Registrierung.

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