Es beginnt im Jahr 1933. Adolf Hitler und seine Nazis haben in Berlin gerade die Macht übernommen. Einschüchterung und Gewalt gehören für Liberale, Demokraten und Kommunisten zur Tagesordnung. Davon bedroht war auch ein junger, ungarischer Aktivist: Sandor Rado.
Aus Berlin geflüchtet, reist Rado nach Moskau, um als Kartograf am ersten Atlas der Sowjetunion zu arbeiten. Dort wird der glühende Kommunist und Jude in den russischen Geheimdienst eingespannt. Das Ziel der Sowjets: im Falle eines Krieges in Europa geheimdienstliche Netzwerke einzurichten.
Ein verlockendes Angebot
Nicht nur Rado wird durch das Naziregime bedroht, sondern auch Rudolf Rössler. Der deutsche Journalist ist ein konservativer Lutheraner. Er hält in Kreisen Berliner Intellektueller Konferenzen gegen den Nationalsozialismus ab, weshalb er den Nazis ein Dorn im Auge wird.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten starten sie eine Verleumdungskampagne gegen Rössler. Er flüchtet mithilfe seines Freundes Xavier Schnieper in die Schweiz.
In seiner neuen Heimat Luzern bleibt Rössler heimlich mit deutschen Dissidenten verbunden. Kurz vor dem Krieg findet an der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich ein Treffen statt, wovon er seinem Schweizer Freund Schnieper erzählt: «Rössler sagte mir: ‹Heute bekam ich Besuch von zwei alten Freunden in meinem Haus, zwei Offiziere der deutschen Wehrmacht›», so Schnieper in einem Interview nach Kriegsende. Die übergelaufenen Offiziere wollten dem aus Nazideutschland geflohenen Rössler alle Informationen geben, die sie hatten. Rössler könne mit diesen Informationen machen, was er wolle.
Der Schweizer Historiker Christian Rossé hält fest: «Ab diesem Zeitpunkt erhielt Rössler Informationen.»
Sowjetisch-schweizerische Spionage
Hitler plant, das Deutsche Reich nach Osten zu erweitern. Er kontaktiert Stalin. Die beiden Diktatoren unterzeichnen im Sommer 1939 einen Nichtangriffspakt und einigen sich auf eine Teilung Polens. Daraufhin fällt Hitler in Polen ein. Innert kürzester Zeit stehen sich die russische und deutsche Armee auf polnischem Gebiet gegenüber.
Kommunist Rado, der sich in der Zwischenzeit in Genf niedergelassen hat, wird nach Kriegsausbruch von der Roten Armee beauftragt, sein Netzwerk auszubauen. Er organisiert ein Treffen mit drei kommunistischen Aktivisten, die für ihn verschlüsselte Nachrichten nach Moskau senden.
Von Moskau vermittelt, lernt der Ungar einen Journalisten aus Bern kennen. Sein Name: Otto Pünter. Rado bittet ihn um eine Zusammenarbeit, denn der Schweizer verfügt seit dem Spanischen Bürgerkrieg über ein antifaschistisches Geheimdienstnetzwerk.
Codename «Lucie»
Im Frühjahr 1940 greift Hitler Frankreich an und fügt dem Land die grösste militärische Niederlage seiner Geschichte zu. Ein Jahr später beginnt die Operation Barbarossa – der Russlandfeldzug. In nur drei Monaten stehen die Deutschen vor den Toren Moskaus.
Die Sowjets ziehen nun alle Register und bündeln in der Schweiz ihre Kräfte, dies trotz enormer Risiken, von den Deutschen abgehört zu werden.
Trotz Rados riesigem Netzwerk gelang ihm der Durchbruch erst, als Rösslers Informationen dazukamen.
Was die Russen nicht wissen: Rössler verkauft von Luzern aus seine Informationen an ein anderes sowjetisches Geheimdienstnetzwerk. Mit dem Zusammenschluss sowjetischer Netzwerke in der Schweiz wird also unbeabsichtigt eine Verbindung zwischen Rössler und dem sowjetischen Spitzel Rado hergestellt. Rösslers wichtige strategische Informationen, direkt aus dem Oberkommando der deutschen Wehrmacht, gelangten von Luzern via Genf nach Moskau. Truppenbewegungen, Art der eingesetzten Waffen, Kampfbereitschaft der Soldaten, Stellungen der Armeen: Jetzt weiss die Rote Armee Bescheid über bevorstehende deutsche Operationen an der Ostfront.
«Trotz Rados riesigem Netzwerk, das sich inzwischen über die ganze Schweiz und auch in Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und Belgien erstreckte, gelang ihm der Durchbruch erst, als Rösslers Informationen dazukamen», sagt der russische Historiker Aleksandr Kolpakidi. Rado gibt seiner neuen Quelle – angelehnt an Rösslers Aufenthaltsort Luzern – den Codenamen «Lucie».
«Lucie» und der Schweizer Geheimdienst
Die Sowjets bleiben nicht die einzigen, die Rösslers Informationen in die Hände bekommen. Rösslers Freund, Xavier Schnieper, wird zu Beginn des Krieges Unteroffizier des Schweizer Militärnachrichtendienstes. Schnieper zögert keine Sekunde, seinen neuen Vorgesetzten über Rösslers Quellen zu berichten.
Und so verfasst der nach Luzern geflüchtete Rudolf Rössler ab August 1939 während des gesamten Krieges täglich ausführliche Berichte für die Schweiz. Er veröffentlicht drei bis vier Berichte pro Tag von bis zu drei Seiten, weiss Historiker Rossé: «Die von ihm geleistete Arbeit war gigantisch.» Rössler wird zu einer der besten Quellen für die Schweizer Geheimdienste.
Zurück auf dem Schlachtfeld: Der deutsche Einmarsch in Russland funktioniert nicht wie geplant. Mit dem Einbruch des Winters Anfang Dezember 1941 geben die Deutschen ihre Absichten gänzlich auf. Die Rote Armee kann sich neu organisieren. Ihre Gegenoffensiven zeigen Wirkung. Hitler hat gerade die Schlacht um Moskau verloren – ein nicht nur geopolitischer, sondern auch psychologischer Wendepunkt.
In der Wehrmacht bricht das Vertrauen zusammen. Die deutschen Generäle, die aufgrund eisiger Temperaturen immer mehr Truppen vor Moskau verlieren, ziehen sich trotz Hitlers Befehl zurück. Wütend entlässt der Diktator 35 hochrangige Militärs, darunter den Oberbefehlshaber der Armee. Am 1. Januar 1942 schreibt Rado an Moskau:
«An den Direktor. [Walther von] Brauchitschs Ablösung war das Ergebnis eines dreimonatigen Konflikts zwischen Hitler und den Generälen. Auch Brauchitschs Posten wurde nacheinander drei Generälen angeboten. Alle drei weigerten sich, weil sie die Verantwortung für die katastrophale Situation an der Front nicht übernehmen wollten.»
Von Moskau gelobt
Als die Schlacht um Stalingrad gegen Ende 1942 beginnt, werden die Nachrichten zwischen Genf und Moskau immer zahlreicher – und Rösslers Berichte für die Russen immer bedeutender. So schreibt Moskau am 10. Januar 1943 Rado zurück:
«Lucies Informationen über die Kaukasusfront und alle wichtigen Angelegenheiten an der Ostfront […] müssen uns unverzüglich vor allen anderen Informationen übermittelt werden. Lucies neueste Informationen waren sehr wichtig. Der Direktor.»
Als Hitlers Armeen im Februar 1943 in Stalingrad kapitulieren, wissen die Alliierten, dass die Nazis den Krieg verlieren werden. Aber die Arbeit der Agenten aus der Schweiz muss aus Sicht der Russen weitergehen. Nachricht aus Moskau:
«Bitten Sie Lucie, zu recherchieren, wie das Oberkommando der Wehrmacht seine neue Verteidigung organisieren will. Sagen Sie Lucie, dass wir nicht nur an den bereits getroffenen Entscheidungen interessiert sind, sondern auch an allen Gesprächen, die im Hauptquartier geführt werden. Der Direktor.»
«Grösstes Geheimnis des Zweiten Weltkriegs»
Dass Rössler Zugriff auf die Entscheidungen des deutschen Heereshauptquartiers hat, macht Lucies Quellen besonders rätselhaft. Als es der deutschen Spionageabwehr gelingt, die Nachrichten teilweise zu entschlüsseln, geraten sie regelrecht in Panik.
Einer der Beteiligten, Geheimdienstoffizier Wilhelm Flicke, drückt es gemäss CIA-Archiv nach dem Krieg wie folgt aus: «Hunderte Menschen wurden in Hitlers Hauptquartier, der Wehrmacht, dem Aussenministerium und anderen Dienststellen überwacht. Spezialtruppen wurden in alle Richtungen geschickt. Vergeblich. Es wurde nichts gefunden. Das bleibt das grösste Geheimnis des Zweiten Weltkriegs.»
Was die RTS-Dokumentation über die als verschollen geglaubten und kürzlich gefundenen Berichte Rösslers zeigt: Rösslers Informationen zur Kriegsführung an der Ostfront haben wesentlich dazu beigetragen, dass Hitler die Schlacht um Moskau verliert. Dies hat das Ende des Dritten Reichs eingeleitet.