Für die Schweizer Gletscher geht ein verheerender Sommer zu Ende. Über Monate hinweg waren die Temperaturen hoch. Die ETH Zürich musste mehrere ihrer Messprogramme einstellen und Gletscher für tot erklären, denn an den Messstellen fehlt das Eis. Die Hoffnung liegt nun auf einem langen und kalten Winter. Doch das ewige Eis, das diesen Sommer weggeschmolzen ist, sei wohl für immer verloren, so Glaziologe Matthias Huss.
SRF News: Sorgt die Kälte der letzten Tage nicht für Entspannung?
Matthias Huss: Nein. Leider ist es zu spät. Diese Kältewelle hilft den Gletschern nicht mehr. Im Sommer ist so viel Eis verloren gegangen, dass man jetzt auch nichts mehr machen kann.
Wie hinterlässt der Sommer 2022 die Schweizer Gletscher?
In einem Zustand, den wir so noch nie gesehen haben. Wir haben eine absolute Rekordschmelze. Das hat sich schon früh angekündigt, mit sehr wenig Schnee im Winter. Dann diese langen Hitzewellen. Wir haben wirklich extrem viel Eis verloren. Wir haben in den Alpen nirgends mehr Schnee vom letzten Winter. Das ist für die Gletscher absolut dramatisch.
Wir haben eine absolute Rekordschmelze.
Sie haben einige Gletscher für tot erklärt. Was heisst das?
Wir mussten drei Messprogramme aufgeben, da die Gletscher einfach weg sind. Oder sie sind inzwischen so klein, dass man keine Messungen mehr durchführen kann. Ob ein Gletscher überhaupt tot sein kann, ist eine philosophische Frage. Aber wir können keine Messungen mehr machen auf diesen Gletschern, da sie für uns gestorben sind.
Wie müsste ein Winter idealerweise sein für eine Erholung?
Wir brauchen einen sehr schneereichen Winter. Das ist wahrscheinlich sogar möglich. Aber dann brauchen wir eben auch noch einen kühlen Sommer dazu. Und momentan sind wir in einer klimatischen Lage, in der die Kombination von beidem sehr unwahrscheinlich geworden ist. Selbst 2021, als wir einen kühlen Sommer hatten, reichte das bei weitem nicht. Das heisst, es ist wirklich sehr unwahrscheinlich, dass wir im nächsten Jahr eine Entspannung der Lage vorfinden – oder gar Gletschergewinne.
Was kann man kurzfristig tun, um die Gletscher besser zu schützen?
Es ist möglich, die Gletscher abzudecken, und damit lokal die Schmelze zu reduzieren. Das wird zum Beispiel von Skigebieten gemacht, wo man das Eis aus wirtschaftlichen Gründen an einem bestimmten Ort braucht. Aber das darf man nicht verwechseln mit der Gletscherrettung. Wir können sie mit diesen technischen Mitteln unmöglich als Ganzes retten. Grundsätzlich kann man nichts gegen das Gletschersterben tun, ausser das Klima zu schützen, aber da sieht man halt keinen sofortigen Effekt.
Wie lange geben Sie den etwa 1400 Gletschern im Land noch?
Viele davon sind sehr klein. Und diese kleinen Gletscher können in den nächsten 10 bis 30 Jahren komplett verschwinden. Wir haben in den letzten Jahrzehnten auch schon über 1000 Gletscher verloren. Grosse Gletscher, etwa der Grosse Aleschgletscher, könnten durchaus noch überleben bis zum Ende des Jahrhunderts. Es kommt darauf an, wie die Staatengemeinschaft den Klimaschutz vorantreibt.
Wenn kein Klimaschutz betrieben wird, dann dürfte praktisch alles Eis in der Schweiz verschwinden.
Wenn es wirklich dazu kommt, dass wir das Pariser Abkommen umsetzen und die CO₂-Emissionen weltweit ab 2050 auf 0 reduzieren können, werden die grossen Schweizer Gletscher noch vorhanden sein. Zwar deutlich kleiner als heute, aber wir haben noch Eis, das wir unseren Enkelkindern zeigen können. Wenn hingegen kein Klimaschutz betrieben wird, dann dürfte praktisch alles Eis in der Schweiz verschwinden – vielleicht bis auf ein paar kleine Reste auf über 4000 Metern.
Das Gespräch führte Roger Brändlin.