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Anstieg der Arbeitslosenzahlen «Das ist eine noch nie gesehene Zunahme»

In der Schweiz nimmt die Zahl der Arbeitslosen sprunghaft zu: Das überrascht selbst Boris Zürcher, den Direktor für Arbeit beim Bund. Die Coronakrise trifft den Schweizer Arbeitsmarkt mit voller Wucht.

Boris Zürcher

Leiter Direktion für Arbeit Staatssekretariat für Wirtschaft Seco

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Boris Zürcher ist seit 2013 Leiter der Direktion für Arbeit. Zuvor war er Chefökonom und Direktor der BAK Basel Economics AG und Chefökonom und Vizedirektor bei Avenir Suisse. Von 2002 bis 2007 war er wirtschaftspolitischer Berater der Bundesräte Pascal Couchepin, Joseph Deiss und Bundesrätin Doris Leuthard im Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement. Von 1999 bis 2002 war er Ressortleiter Arbeitsmarktpolitik im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco).

SRF News: 135'624 Personen waren in der Schweiz Ende März als arbeitslos gemeldet, das sind deutlich mehr als noch Ende Februar. Haben Sie mit einem so starken Anstieg gerechnet?

Boris Zürcher: Nein, natürlich nicht. Vor einem Monat, als ich die Februar-Arbeitslosenzahlen kommentiert habe, sah die Welt noch sehr gut aus. Bis Mitte März ging die Arbeitslosigkeit sogar noch leicht zurück, wie das im März jeweils auch dem saisonalen Muster entspricht.

Ich appelliere an die Unternehmen, nach Möglichkeit auf Kurzarbeit auszuweichen und nicht Leute zu entlassen.

Aber mit dem 16. März kommt dieser massive Anstieg: Seither steigt die Zahl der Arbeitslosen pro Werktag um etwa 2'000 Personen. Und die neusten Zahlen zeigen sogar einen Anstieg um über 30'000 bis gestern Abend. Das ist eine noch nie gesehene Zunahme der Arbeitslosigkeit und der Stellensuchenden in so kurzer Zeit in der Schweiz.

Entlassen die Firmen vereinzelt Angestellte oder sind bereits erste Massenentlassungen zu beobachten?

Das kann ich nicht sagen. Es ist aber völlig klar, dass in der jetzigen Situation viele Unternehmen ihr Kalkül auch machen, schauen, wie die Perspektive allenfalls auch nach der Krise aussieht.

Prognosen im aktuellen Moment sind sehr gewagt, da lasse ich mich nicht auf die Äste hinaus.

Wir haben mit der Kurzarbeitsentschädigung ein Instrument, das Entlassungen im Prinzip vermeiden sollte. Wir haben dieses Instrument auch massiv geöffnet. Aber ich sehe auch, dass für viele kleinere Unternehmen Entlassungen möglicherweise unvermeidlich sind.

Welche Branchen oder Berufsgruppen sind besonders betroffen von diesen Entlassungen im März?

Es sind die Bereiche, in denen die Massnahmen des Bundesrates am stärksten durchschlagen: Das Gast- und das Baugewerbe. Dieses Mal sind es nicht primär die 50- bis 65-Jährigen, sondern es sind die Jüngeren: Die ganz Jungen und quasi die «Stammbelegschaft» der Schweiz, die 35- bis 50-Jährigen. Auch viele Ausländer sind betroffen: Das ist nicht ganz überraschend, weil wir einen sehr abrupten Abbruch der Wintersaison in den Bergen hatten. So haben viele Angestellte in den Gastrobetrieben und Tourismusgegenden den Job verloren oder machen jetzt Kurzarbeit.

Wie geht es weiter?

Im Moment sind Berechnungen sehr schwierig. Es kommt darauf an, wie lange dieser Zustand anhält. Je länger er anhält, umso schwerwiegender und irreversibler werden die Schäden in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt sein.

In einem normalen Jahr gehen bis zu 14'000 Unternehmen Konkurs. Nun sind auch Unternehmen gefährdet, die normalerweise knapp überleben würden.

Wenn es jetzt hingegen rasch zu einer Lockerung käme, dann würde sich das Instrument der Kurzarbeitsentschädigung eignen, weil dann viele Angestellte ihre Arbeit wieder aufnehmen könnten. Prognosen im aktuellen Moment sind sehr gewagt, da lasse ich mich nicht auf die Äste hinaus. Aber: Der Trend zeigt in allen relevanten Dimensionen eine Zunahme.

Die Gewerkschaften wollen den Kündigungsschutz verschärfen. Braucht es das unter Umständen, um Entlassungen zu verhindern?

Man sollte die Unternehmen jetzt nicht zusätzlich drangsalieren. In einem normalen Jahr gehen etwa 13- bis 14'000 Unternehmen Konkurs. Durch diese ausserordentliche Situation sind jetzt auch Unternehmen gefährdet, die normalerweise knapp überleben würden.

Sie sollen Entlassungen vornehmen können. Entlassene sind in der Schweiz gut geschützt mit der Arbeitslosenversicherung, und die maximale Bezugsdauer von Geldern wurde um 120 Taggelder verlängert. Wir wollen eher diese Instrumente einsetzen als mitten in der Krise den Kündigungsschutz auszubauen. Das wäre wahrscheinlich nicht sehr zielführend.

Das Gespräch führte Stefanie Pauli.

SRF 4 News, 07.04.2020; 07:00 Uhr ; 

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