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Boomende Branche Flussreisen: Trügerische Idylle

Schiffsführer und Service-Personal klagen über schlechte Löhne und enorme Überzeiten auf Flusskreuzfahrt-Schiffen.

«Das war eine der schrecklichsten Erfahrungen meines Lebens. Das war wie Sklaverei.» 15 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. «Wir arbeiteten 95 Stunden pro Woche und mehr.» Statt 48 bis 72, wie vertraglich vereinbart.

Das sind die Erfahrungen von Petru Sinescu, der letztes Jahr als Kellner auf einem Schweizer Flusskreuzfahrtschiff arbeitete.

Die Stimmung sei gereizt, alle im Stress gewesen. Nach drei Wochen quittierte Petru Sinescu seinen Job. Für 22 Arbeitstage erhielt er 809 Euro ausbezahlt. Netto. Das ist ein Stundenlohn von 4 Euro.

Bezaubernde Landschaften, gemütliches Reisetempo

Solche Arbeitsbedingungen passen nicht zur Werbung, mit der Reiseanbieter immer mehr Touristen auf die Flüsse Europas locken. Eine Flusskreuzfahrt soll den Kunden das Gefühl von Luxus und Exklusivität geben.

Gäste auf Flussschiff.
Legende: 300'000 Reisende auf europäischen Flüssen pro Jahr. Tendenz steigend. SRF

Heute sind es 300'000, die für eine einwöchige Reise auf einem europäischen Fluss zwischen 1000 und 2000 Franken ausgeben. Die Branche wächst jährlich um zehn Prozent.

Flussreisen boomen

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Auf Europas Flüssen verkehren über 300 Flusskreuzfahrtschiffe. Es werden Jahr für Jahr mehr. Dieses Jahr kommen 21 neue Schiffe dazu. Die Reiseanbieter beschäftigen 2500 Angestellte in der Nautik und 12'000 in der Hotellerie.

Viele Reedereien haben ihren Sitz in der Schweiz. Jedes dritte Flusskreuzfahrtschiff fährt unter Schweizer Flagge. So auch die Schiffe des Branchen-Leaders Viking Cruises.

Dass Petru Sinescus Erfahrungen keine Ausnahme sind, bestätigen mehrere Schiffsführer, Experten und Kellner, mit denen «ECO» gesprochen hat.

«Es gibt viele Schiffe, die zwei, drei Monate nach Beginn der Saison 50 Prozent ihrer Besatzung auswechseln müssen, weil die Leute wieder gehen», sagt ein Schiffsführer, der anonym bleiben will.

Unbezahlte Überstunden

Das Hauptproblem sei, so Holger Schatz von der Gewerkschaft Nautilus, dass Überstunden in der Regel weder kompensiert noch ausbezahlt würden.

Die Reedereien, viele davon mit Sitz in der Schweiz, wiegeln ab. Daniel Buchmüller, Präsident des Dachverbandes IG River Cruise: «Wie mir die Branche sagt, wird Überzeit bezahlt oder in Ferien abgegolten. Wenn es da andere Aussagen gibt, muss ich das zur Kenntnis nehmen.»

Viking Cruises, die Reederei mit Sitz in Basel, bei der Petru Sinescu angestellt war, will aus Datenschutzgründen zum konkreten Fall keine Stellung nehmen. Man halte sich aber an internationale Richtlinien, die 48 Stunden pro Woche vorschrieben.

Immerhin: Der Branchen-Leader verspricht für dieses Jahr höhere Löhne: «Der schlechtestbezahlte Angestellte, ein Tellerwäscher, verdient bei uns 1800 Euro netto.»

«Menschliches Versagen»

Schiffsführer sagen, die hohe Fluktuation und die chronische Unterbesetzung würden sich auch auf die Sicherheit an Bord auswirken. Es gebe darum mehr Havarien und Unfällen.

Vor zwei Jahren rammte ein Flusskreuzfahrtschiff in Duisburg einen Brücken-Pfeiler. Es gab über 20 Verletzte. Grund: menschliches Versagen.

Daniel Buchmüller vom Dachverband IG River Cruise führt an, die Schiffe seien nach wie vor sicher unterwegs. Auf die Frage nach dem Grund für die vielen Unfälle bestätigt er aber: «Das ist menschliches Versagen, in der Regel.»

Behörde alarmiert

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Bei der Vergabe von Arbeitsvisa für Angestellte überprüft das Staatssekretariat für Migration SEM schriftlich, ob gegen die arbeitsrechtlichen Mindestanforderungen bezüglich Arbeitszeiten und Mindestlöhne verstossen wird. Dabei werde genau hingeschaut, schreibt das SEM. «Denn uns ist die Kontroverse um die Arbeitsbedingungen auf den Rheinschiffen nicht entgangen.»

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