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Das sagt der Experte «Einsparungen im Milliardenbereich möglich»

Der internationale Vergleich von Gesundheitssystemen zeigt: Andere Länder machen es besser.

Das elektronische Patientendossier ermöglicht es, Gesundheitsinformationen zusammenzuführen. Die Schweiz ist dabei, die erste Hürde zu nehmen.

Die Voraussetzungen sind im internationalen Vergleich eher ungünstig. Dieser Ansicht ist Rainer Thiel. Er hat einen Vergleich unter 17 Ländern gemacht und stellt für die Schweiz fest: Vor allem die Ärzte müssten ins Boot geholt werden. Und die Patienten müssten den Nutzen erkennen, den ihnen die Digitalisierung im Gesundheitssystem bringt.

Rainer Thiel

Leiter Empirica

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Rainer Thiel leitet das Unternehmen Empirica, das in Bonn Kommunikations- und Technologieforschung betreibt. Im Auftrag der deutschen Bertelsmann-Stiftung hat er die Digitalisierung von Gesundheitswesen in 17 Ländern untersucht.

SRF: Die Schweiz liegt auf dem viertletzten Platz. Wieso?

Rainer Thiel: Immerhin liegt die Schweiz noch vor Deutschland und Frankreich. Es hat mit Sicherheit mit dem starken Föderalismus der Schweiz zu tun, aber nicht nur. Es hat mit der politischen Kultur zu tun, dass man sich stark auf wirtschaftliche Akteure verlässt, den freien Markt machen lässt.

Und dann gibt es die Besonderheit, dass die Krankenversicherung ein schlechteres Standing hat als in anderen Ländern. Der Bürger sieht eine höhere Hürde, aus datenschutzrechtlichen Gründen mit seiner Versicherung in Kontakt zu kommen.

Auf Platz 1 liegt in Ihrer Untersuchung Estland, auf Platz 2 Kanada. Weshalb sind diese Länder so gut?

Estland kann man nicht vergleichen. Es ist ein kleines Land, das nach dem Sozialismus keine Vorgängersysteme hat. Man konnte schnell alles digitalisieren. Der Bürger nimmt das offen an. Digitalisierung ist eine Chance, auch in der Gesundheit.

Kanada ist eher vergleichbar mit der Schweiz aufgrund des starken Föderalismus. Aber auch dort kriegen die Provinzen es hin, zu digitalisieren. Es gibt zentrale Institutionen in Kanada, die über die Provinzen hinweg ein elektronisches Patientendossier aufgebaut haben mit sehr viel Geld und sehr viel Personal.

In der Schweiz schieben sich die einzelnen Akteure den schwarzen Peter zu. Die Ärzte betonen vor allem die Kosten. Wie kann man sie nun ins Boot holen? Brauchen sie Anreize?

Es ist tatsächlich so, dass die Hausärzte das Geschäftsmodell noch nicht wirklich sehen und auch nicht den Nutzen für sich in ihrer Praxis. Wenn man das Gesamtsystem betrachtet, sind die Ärzte eine entscheidende Schnittstelle. Ohne die Hausärzte wird die Digitalisierung nicht voranschreiten. Es ist eine Schweizer Besonderheit, dass die Ärzte daran nicht teilnehmen.

Die Erfahrung in anderen Ländern zeigt: Man kriegt sie nur durch Anreize an Bord. Das sind finanzielle Anreize bis hin zu Sanktionen. Es gibt aber auch eine dritte Möglichkeit: Wir haben in Schottland gesehen, dass sie zum Beispiel Bereitschaftsdienste in der Nacht durch die Digitalisierung abgenommen bekamen und so ins Boot geholt wurden.

Die Patienten zu zwingen ist eine ganz schlechte Idee.

Die Ärzte sagen, die Patienten hätten Angst. Wie bringt man diese dazu, mitzumachen? Müsste man sie zwingen?

Die Patienten zu zwingen ist eine ganz schlechte Idee. Das hat nirgendwo funktioniert. Es geht ja um die Überzeugungsarbeit, warum ich dieses Patientendossier brauche. Was nützt das meiner Gesundheit?

Das sind einerseits Fördermassnahmen, Aufklärungsarbeiten und dass man den konkreten Nutzen aufzeigt, indem man einfach mal loslegt, indem man ein konkretes Szenario mit konkreten Anwendungen auf der Patientenakte zeigt, die der Patient auch versteht.

Senkt das EDP langfristig die Kosten?

Wir sehen in vielen Studien und Ländern, dass es eine schwierige Rechnung ist, das nachzuweisen. Ja, die Digitalisierung bringt Einsparungen. Sie führt aber auch zu Qualitätsverbesserung.

Wir haben bereits 2011 eine Regulierungsfolgen-Abschätzung im Gesetzgebungsprozess für das Patientendossier für das Bundesamt für Gesundheit durchgeführt. In einer 20-Jahres-Perspektive wären wir im Milliardenbereich. Das sind enorme Summen. Der einzige Haken ist die Langfristigkeit: Die Investitionen, die jetzt getätigt werden, haben eine Nutzen-Einspielung von 3 bis 10 Jahren.

Das Interview führte Reto Lipp.

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