Das Wichtigste in Kürze
- Hinter dem beliebten Zuckerersatz Stevia steckt laut Kritikern geistiger und biologischer Diebstahl.
- Die Entdecker der Pflanze, das südamerikanische Volk der Guaraní, fordert Ausgleichszahlungen.
- Die Guaraní berufen sich auf das 2014 ratifizierte «Nagoya»-Protokoll und die UN-Konvention für Biodiversität.
- Diese Woche beraten Weltkonzerne über Ausgleichszahlungen.
Auf der einen Seite ein indigenes Volk, das ohne Strom hauptsächlich in den Wäldern Paraguays und Brasiliens lebt – auf der anderen milliardenschwere Konzerne wie Nestlé: Diese Geschichte gleicht jener von David gegen Goliath. Allerdings ist sie noch nicht zu Ende erzählt.

Die Guaraní haben die Wirkung von Stevia entdeckt – jener Pflanze, die als Zuckerersatz zum Riesengeschäft geworden ist. Bevor sie eine Stevia-Pflanze anfassen, bitten sie die Götter um Erlaubnis. Für sie ist die Pflanze mehr als ein Süssstoff – sie ist heilig. Bei Ritualen wie dem Eintritt ins Erwachsenenalter spielt sie eine entscheidende Rolle. Und sie ist eine Medizin. Gar bei Schlangenbissen soll sie helfen.
«Ohne uns zu fragen, haben die Weissen Pflanzen ausgerissen und mitgenommen und sie in eine Ware verwandelt», sagt Luis Arce von der Guaraní-Gemeinde Itaguasú im SRF-Interview. «Die Weissen lassen sich Besitzer von etwas nennen, was uns gehört.» Konzerne setzen mit Stevia-Produkten wie Softdrinks und Bonbons schätzungsweise bis zu elf Milliarden Franken um. Die Guaraní fordern nun Entschädigung.
Nagoya-Protokoll regelt Zahlungen – eigentlich
Im sogenannten «Nagoya»-Protokoll, einer Ergänzung zur UN-Konvention über Biodiversität, ist festgehalten: Für die Nutzung genetischer Ressourcen muss ein Vorteilsausgleich bezahlt werden. Bisher ignorieren Konzerne diese Konvention weitgehend.
Die Nichtregierungs-Organisation Public Eye sagt: «Es ist schlimm für die Betroffenen», so Oliver Classen. «Man muss es sehen wie mit anderen Rohstoffen, die ausgebeutet werden. Es geht letztlich darum, dass wir Sorge tragen, dass genug in diesen Ländern zurückbleibt.»
Das Biotech-Unternehmen Evolva mit Sitz in Basel entwickelt eine synthetische Stevia-Variante. 2018 soll «Eversweet» auf den Markt kommen. Damit sind Stevia-Produkte vollständig von ihrer pflanzlichen Herkunft entkoppelt. Konzernchef Neil Goldsmith zeigt Verständnis für die Forderungen der Guaraní: «Biodiversität liegt in unser aller Interesse. Wenn wir Pflanzen verwenden, sollten wir ihre Nutzung abgelten».
Migros und Coca-Cola diskutieren nicht mit
Gemeinsam mit Nestlé und anderen nimmt Evolva am 2. Juni in Paris an einem von Public Eye initiierten Treffen teil. Die Unternehmen diskutieren darüber, ob und wie viel Geld die Guaraní erhalten sollen. Laut Oliver Classen hätten alle «Key Player der Industrie» ihre Teilnahme zugesagt. Dennoch zeigen Nachfragen: Nicht alle wollen mitdiskutieren. Coca-Cola und Migros werden nicht nach Paris reisen. Migros stellt sich auf den Standpunkt, nicht die Migros selbst, sondern ihre Stevia-Lieferanten müssten die Situation klären.
Für Oliver Classen geht es darum, dass die Firmen «von sich aus Konsequenzen ziehen und mit den Betroffenen an den Tisch sitzen». Mit einem unterschriftsreifen Papier rechnet man nicht vor dem nächsten Jahr.
«Wir fordern, dass die Traurigkeit endet»
Die Biopiraterie hat die Guaraní, die weit verstreut in zahlreichen Stämmen leben, näher zusammengebracht. Über hundert Guaraní verschiedener Stämme hatten sich 2016 versammelt, um eine Beteiligung an der kommerziellen Nutzung von Stevia zu fordern.

Sie haben ein Grundsatzpapier entworfen, in dem es unter anderem heisst: «Wir fordern, dass die Traurigkeit endet, die wir Guaraní seit dem Tag verspüren, an dem sie uns die Stevia geraubt haben. Wir verlangen, dass internationale Abkommen erfüllt werden. Das Feuer unserer Forderungen wird nicht erlöschen.»
Von den Ausgleichszahlungen könnten sie sich Land zurückkaufen – jenes, das ihnen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte geraubt wurde.
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