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Wirtschaft Der «anatolische Tiger» lahmt

Nach der Jahrtausendwende boomte die türkische Wirtschaft: Ausländische Investoren strömten in Scharen ins Land. Rechtsunsicherheit und politische Wirren vertreiben nun die Goldgräberstimmung. Doch auch die Freihandelsabkommen der EU könnten der türkischen Wirtschaft zusetzen.

Bis vor zwei Jahren gehörte die Türkei zu den Lieblingsdestinationen westeuropäischer Unternehmer und Investoren aus aller Welt. Das Land glänzte jahrelang mit Wachstumszahlen zwischen 5 und 9 Prozent.

Der Aufschwung begann kurz vor der Jahrtausendwende, nachdem das Land faktisch bankrott war und sich einer Rosskur unter Führung des IWF unterzogen hatte, sagt Erdal Yalcin, stellvertretender Leiter für Aussenwirtschaft am ifo-Forschungsinstitut.

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Verunsicherung in der türkischen Wirtschaft
aus Echo der Zeit vom 09.08.2016. Bild: Keystone
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Deutschlands verlängerte Werkbank

Yalcin führt weiter aus: «Zum einen ist die Binnennachfrage sehr stark gestiegen. Mit der Stabilisierung des Landes gab es Infrastrukturmassnahmen und einen Bau-Boom. Gleichzeitig wurde der türkische Markt sehr attraktiv für ausländische Investoren, insbesondere aus Europa.»

Und hier vor allem aus Deutschland. Volker Treier, Aussenwirtschaftsbeauftragter der deutschen Industrie und Handelskammer, schildert, wie die Türkei zu einer «Art verlängerten Werkbank» wurde: «Das Engagement der deutschen Unternehmen ist von einem wirklich niedrigen Niveau auf fast 10 Milliarden Euro angewachsen. Damit liegt die Türkei für die deutsche Wirtschaft noch vor Ländern wie Südkorea und nur noch knapp hinter einem Industrieland wie Japan.»

Die Euphorie verfliegt

Doch die Begeisterung vieler deutscher Unternehmer für den Standort Türkei hat nachgelassen. Da ist zum einen die wachsende Rechtsunsicherheit. Die Regierung Erdogan bemühte sich lange, westliche Standards zu erreichen. Seit drei Jahren verspüre man von diesen Bemühungen aber kaum mehr etwas, sagt Treier.

Im Frühling habe Erdogan dann den Mindestlohn auf einen Schlag um 30 Prozent heraufgesetzt, quasi als Wahlgeschenk an seine Wählerschaft. Türkische Exporte und Zulieferer für die deutsche Autoindustrie wurden teurer.

Die Folgen blieben nicht aus, so Treier: «Die Unternehmen, die vor Ort tätig sind, halten sich mit Neuinvestitionen zurück. Sie wissen nicht, ob Rechtsstaatlichkeit und Investitionsschutz in der Türkei noch gegeben sind.»

Verhaftungswelle schreckt Investoren ab

Die Verhaftung mehrerer türkischer Unternehmer wegen echter oder vermeintlicher Nähe zur sogenannten Gülen-Bewegung, die hinter dem Putschversuch stehen soll, hat das Misstrauen ausländischer Investoren in ihr Gastland noch verstärkt. Angekündigte Direktinvestitionen aus Deutschland seien zu fast 100 Prozent zurückgestellt worden, sagt Treier.

Wie stark die türkische Wirtschaft durch den Putschversuch und die unberechenbarer gewordene Politik der Regierung Erdogan belastet wird, darüber gibt es keine Zahlen. Offiziell heisst es, man habe alles im Griff. Deutsche Unternehmer in der Türkei rechnen für dieses Jahr freilich im besten Fall mit einem Nullwachstum, nachdem sie ursprünglich mit einem Plus von fünf Prozent gerechnet hatten.

Brüssels Bilaterale: Die Türkei bleibt aussen vor

Erdal Yalcin vom ifo-Forschungsinstitut ortet noch ein weiteres, viel grundsätzlicheres Problem, was die Türkei als Investitionsdestination belastet: «Die EU hat vermehrt damit begonnen, bilaterale Handelsabkommen zu verhandeln. Für die Türkei und Investoren, die langfristig Unternehmen im Land gründen wollen, geht das mit grösseren Unsicherheitsfaktoren einher.»

Konkret: Die Türkei ist über eine Zollunion mit der EU verbunden. Industriegüter aus der Türkei und der EU können praktisch ohne Zölle verschoben werden. Seit die EU vor rund sechs Jahren begonnen hat, bilaterale Freihandelsabkommen auszuhandeln, fragen sich türkische Geschäftsleute, was das wohl für sie für Folgen haben wird.

Mit TTIP erwarten die Türkei Verluste in Höhe von 20 Milliarden Euro.
Autor: Erdal Yalcin Stv. Leiter für Aussenwirtschaft am ifo-Forschungsinstitut.

Denn kommt beispielsweise ein Abkommen zwischen der EU und Japan zustande, können japanische Industriegüter zollfrei in die Türkei importiert werden. Weil die Türkei nicht EU-Mitglied ist, kann es seine Industriegüter aber nicht zollfrei nach Japan exportieren. Ein krasser Nachteil.

Erdal Yalcin hat diese Problematik vertieft untersucht und kommt zum Schluss: «Allein für TTIP, das transatlantische Abkommen zwischen der EU und Amerika, erwarten die Türkei Verluste in Höhe von 20 Milliarden Euro.»

Das wissen die türkischen Unternehmer. Und auch das türkische Wirtschaftsministerium. Erdal Yalcin ist überzeugt, dass diese Hypothek die Türkei als beliebtes Investitionsziel belasten wird. Und mit ein Grund ist, weshalb die türkische Regierung von der EU als Wirtschaftspartner enttäuscht ist.

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