Als griechischer Rebell gegen das Spardiktat der Euro-Gruppe machte er sich einen Namen: Yanis Varoufakis. Von Januar bis Juli 2015 war Varoufakis für die sozialistische Syriza-Regierung Finanzminister in Griechenland. Gestern weilte der Wirtschaftswissenschaftler für ein Podiumsgespräch auf Einladung des Efficiency Club in Zürich.
SRF News: Wie geht es den Griechen zurzeit?
Yanis Varoufakis: Das wollen Sie nicht wissen. Niedergeschlagenheit, Verzweiflung, Pessimismus. Das, was eine acht Jahre anhaltende grosse Depression bewirkt. Und keine Aussicht auf Besserung. Es ist die gleiche alte Geschichte.
Die griechische Regierung hat gerade erst neue Sparmassnahmen wie etwa Rentenkürzungen beschlossen, um die Voraussetzungen für neue Hilfszahlungen zu erfüllen. Was heisst das für den Alltag der Griechen?
Die Renten wurden bereits 14 Mal gekürzt.
Die Abwärtsspirale der griechischen Volkswirtschaft geht weiter. Die Renten wurden bereits 14 Mal gekürzt und jedes Mal substanziell. Seit letztem Jahr hat eine von zwei griechischen Familien gar niemanden mehr, der arbeitet. Diese Familien überleben mit der kleinen Rente des Grossvaters oder der Grossmutter. Die ganze Rente wird sofort ausgegeben. Eine Rentenkürzung bedeutet deshalb automatisch eine Reduktion des Konsums, was wiederum dazu führt, dass lokale Verkaufsgeschäfte Konkurs gehen. Die Ladenbesitzer zahlen dann nicht mehr in die Vorsorgesysteme ein und erhalten Arbeitslosengeld. Das ist ein Teufelskreis.
Die griechische Volkswirtschaft ist im ersten Quartal 2017 wieder geschrumpft. Weshalb?
Schauen Sie, Griechenland ist ein bankrotter Staat, der seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Und Europa tut so, als ob Griechenland gar nicht bankrott sei, und zahlt für Griechenland. Im Juli werden wieder 7 Milliarden aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus genommen und für die Griechen an die Europäische Zentralbank gezahlt. Davon sieht Griechenland gar nichts. Die Bedingung dafür sind Rentenkürzungen und Steuererhöhungen – und das in einer sterbenden Wirtschaft. Jeder Zehnjähriger sieht, dass dies nicht gut enden kann.
Was wären die richtigen Massnahmen?
Es ist simple Arithmetik.
Zunächst müssten die Steuern deutlich reduziert werden. Es ist lächerlich, dass die Griechen fast 30 Prozent Steuern zahlen. Im Nachbarland Bulgarien zahlt man 10 Prozent. Deshalb verlassen die Unternehmen unser Land.
Zudem müssen die Gläubiger das lächerliche Haushaltsüberschussziel von 3.5 Prozent des BIP abschwächen. Dafür muss man die Schulden restrukturieren, so dass die Schuldenlast mit einem kleineren Überschuss langsamer abgebaut werden kann. Um das einzusehen, braucht man weder links noch rechts, weder Monetarist noch Keynesianer zu sein. Das ist simple Arithmetik.
Sehen Sie dennoch auch Hoffnungsschimmer?
Ich habe genau null Hoffnung.
Ich habe genau null Hoffnung. Es gibt wenige Dinge in der Ökonomie, die gewiss sind. Das Scheitern des Griechenland-Hilfsprogramms ist eines davon.
Die Euro-Finanzminister haben den Beschluss über eine nächste Hilfstranche jüngst auf Mitte Juni verschoben. Werden sie sich einigen können?
Die Finanzminister sollten sich schämen. Sie verschieben und verschieben nachhaltige Lösungen seit 2010. Damals ging der griechische Staat bankrott und die Euro-Gruppe entschied sich, den grössten Kredit der Geschichte – und zwar in absoluten Zahlen – einem bankrotten Staat zu geben. Unter der Bedingung von Sparmassnahmen, die das Einkommen weiter verringern. So zerstört man Europa.
Werden wir in den nächsten Monaten eine Neuauflage der griechischen Schuldenkrise erleben?
Griechenland hat schon fast 800'000 hochqualifizierte Arbeitskräfte verloren.
Die Schuldenkrise hält seit 2010 an. Was Sie eigentlich fragen: Kommt das Problem wieder in die Schlagzeilen? Das ist aber nicht dasselbe. Die Krise verursacht jeden Tag nachhaltigen Schaden. Das Schlimmste ist, dass wir bereits fast 800‘000 junge, hochqualifizierte Arbeitskräfte verloren haben. Sie sind ausgewandert und werden so schnell nicht mehr zurückkommen. Diese Menschen sind das wertvollste Gut, das Griechenland hat und wir verlieren es.
Doch in der Schweiz oder Deutschland hört man nur von der griechischen Krise, wenn die Gläubiger gerade wieder ein Problem haben, wie jetzt wieder. Oder wenn die Leute so verzweifelt sind, dass es auf den Strassen Athens zu Unruhen kommt.
Wie sehen Sie die Zukunft des Euro?
Ich sehe keine Zukunft für den Euro, so wie er heute aufgestellt ist. Für Italien funktioniert der Euro nicht, ich persönlich glaube, er funktioniert auch für Frankreich nicht. Es ist eine Währungsunion mit verschiedenen Bankensektoren und keinem letztinstanzlichem Kreditgeber. In einem Währungsraum mit Defizitländern und Überschussländern gibt es in guten Zeiten einen natürlichen Geldfluss von den Überschussländern in die Defizitländer. Das schafft Blasen. Wenn diese platzen, gehen die Banken in den Defizitländern pleite, dann gehen die Staaten bankrott. Und es gibt keinen Mechanismus, um mit diesen Pleiten umzugehen.
Wie gross ist der Einfluss Deutschlands in der Eurozone aus Ihrer persönlichen Erfahrung?
Entscheidend. Aber man darf nicht in die Falle tappen und den Deutschen die Schuld zuweisen. Denn wir sind alle zusammen im Schlamassel. Die Eliten Frankreichs, Italiens und Griechenlands sind genauso verantwortlich für die Architektur der Eurozone.
Auch die Schweiz verhandelt mit Brüssel. Sie haben Erfahrung damit. Welche Empfehlungen können Sie abgeben?
Habt einen Plan B.
Die wichtigste Lektion aus unseren Verhandlungen mit Brüssel, aber auch aus den aktuellen Verhandlungen zwischen der EU und Grossbritannien: Habt einen Plan B. Man muss der EU konstruktive, moderate Vorschläge unterbreiten, sollte aber auch wissen, was man im Fall der Ablehnung tut. Und der Plan B muss machbar sein und in den Interessen der Schweiz liegen.
Und weiter?
Die Schweiz ist im Vergleich zu London und Athen in der angenehmen Situation, dass das zu verhandelnde Abkommen für Brüssel kein echtes Problem darstellt. Auch die EU will ein für beide Seiten vorteilhaftes Abkommen. Im Fall von London oder Athen ist die Situation anders. Brüssel will die Briten bestrafen, wie 2015 auch die griechische Regierung. Nichtsdestotrotz: Die Schweiz sollte den Verhandlungsrahmen verkleinern und sich auf zwei oder drei sehr wichtige Fragen konzentrieren. Je breiter die Verhandlungen angelegt sind, desto schlechter wird ein Abkommen für die Schweiz ausfallen.
Das Gespräch führte Caspar Pfrunder.