Estlands Hauptstadt Tallinn hat viele Gesichter. Jenes der alten Hansestadt, jenes der Plattenbauten aus der Sowjetzeit, jenes der modernen Blöcke aus Glas und Beton. Was die 430'000 Menschen verbindet: im Alltag sind sie digital unterwegs. Bargeld braucht kaum noch jemand, steter Begleiter ist das Smartphone, und darauf – geschützt mit Fingerabdruck und Pin-Code – die digitale Identität.
Ein Passant zückt sein Gerät und erklärt: «Ich kann alle persönlichen Daten von der Krankenakte über das Auto, die Versicherung, die Kinder oder das Haus an einem Ort einsehen.» Für Estland sei der digitale Wandel eine wirtschaftliche Notwendigkeit, ergänzt seine Partnerin. Und das System könne vielleicht die Welt verändern.
Wir scherzen hier, dass wir nur bei drei Sachen persönlich aufs Amt gehen müssen: Zum Heiraten, zum Scheiden und beim Kauf einer Liegenschaft.
Robert Krimmer hat selber eine E-ID. Der Österreicher ist Professor für E-Governance an der Uni von Tallinn. Der Kernpunkt der E-ID sei, dass die Menschen mehr Verantwortung im Umgang mit Daten übernähmen, aber auch die Kontrolle über sie hätten: «Sie wissen, wann auf ihre Daten zugegriffen wurde und welche Einrichtung es war.»
Die Ohnmacht, nicht zu wissen, wer mit den eigenen Daten hantiere, entfalle: «Und wenn Sie in der Log-Datei etwas entdecken, das sich nicht begründen lässt, können Sie nachfragen.» Bei Missbrauch können Beamte oder Polizisten ihren Job verlieren, Anwälte oder Ärzte ihre Lizenz. Privatpersonen drohen hohe Bussen.
Die zentrale Datenbank zu pflegen und zu schützen ist Sache des Staates. Anwendungen dafür entwickeln private Unternehmen. Also von der Bank, über die Versicherung bis zur Kundenkarte des Grossverteilers – immer auf Basis dieser einen Datenbank.
Kadri Kaska schätzt diese digitale Welt: «Wir scherzen, dass wir nur bei drei Sachen persönlich aufs Amt gehen müssen: Zum Heiraten, zum Scheiden und beim Kauf einer Liegenschaft. Den Rest erledigen wir online.»
Wir akzeptieren, dass Technologie nie perfekt ist.
Dabei müsste sie besonders alarmiert sein, wenn in Estland quasi das gesamte Leben auf einer Datenbank abgespeichert ist. Denn Kaska arbeitet für einen Nato-Think-Tank zu Cyberkriminalität. Sicher vor Cyberattacken sei niemand – wichtig sei, damit richtig umzugehen: «Wir akzeptieren, dass Technologie nie perfekt ist. Wenn etwas schief geht, brauchen wir als digital abhängige Gesellschaft einen Plan, wie wir unser normales Leben fortführen können.»
Störungen müssten schnell erkannt werden, um auf alternative Systeme wechseln zu können, so Kaska: «Versagt eine technische Lösung, steht die nächste bereit.» Die Cyberforscherin vergleicht die Sicherheitsstrategie mit dem menschlichen Körper: «Du kannst nie sicher sein, dass du keinen Virus einfängst oder krank wirst. Aber du weisst, wie du dich davor schützen kannst. Was du machen musst, wenn es passiert.»
Andere Interpretation des Datenschutzes
In der Schweiz speichert jedes Amt, jede Ärztin oder jede Versicherung persönliche Daten separat ab. In Estland ist es ein riesiger Datensatz, der vom Staat überwacht wird. Das Land zählt auf das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat – und auf funktionierende Kontrollmechanismen.
Wenn jede Anpassung von Gesetzen oder persönlichen Daten einsehbar ist, werden in erster Linie die Prozesse in den Verwaltungen gläsern, weniger die Bürger. Ganz im Gegensatz zu privaten internationalen Internetkonzernen. Sie sind an gläsernen persönlichen Identitäten interessiert. Denn nur solche Profile lassen sich zu Geld machen – kontrolliert werden können diese auch nicht.