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Milizpolitiker unter Druck Milizpolitik und Job lassen sich schlecht vereinen

Gemeindevorstand Seraina Bertschinger steht vor der Dorfkirche von Felsberg (GR) und rollt einen Bauplan aus. Das Areal um Kirche und Friedhof wird neu gestaltet – eine Begehung mit dem Gemeindepräsidenten und dem Architekten. «Dieser Hügel wird freigelegt, dort kommt der Fels hervor. Dieses Grab kommt weg und der Taufstein wird verschoben», erklärt die Vorsteherin des Departements Volkswirtschaft und Umwelt ihren Kollegen.

Die parteilose Bertschinger ist Milizpolitikerin: Ihr öffentliches Amt übt sie nebenberuflich aus. Sie ist Gemeindepolitikerin, Mutter und selbstständige Texterin. Um genügend Zeit für Gemeinde und Familie zu haben, musste sie ihre Fixanstellung bei einer Werbeagentur aufgeben. «Festangestellte plus Familienfrau plus Gemeindevorstand – da musste ich die Notbremse ziehen», sagt sie. «Das Unternehmen hatte keine Möglichkeit, mich mehr zu unterstützen.»

Nationale Untersuchung zeigt Überraschendes

Der Fall von Seraina Bertschinger zeigt, für Milizpolitikerinnen und Milizpolitiker ist es nicht einfach, Beruf und politisches Milizamt zu vereinbaren. Curdin Derungs ist Professor für Verwaltungsmanagement an der Fachhochschule Graubünden. Er hat untersucht, inwieweit Unternehmen ihre Angestellten unterstützen, die nebenberuflich ein politisches Amt ausüben. Schweizweit wurden fast 1900 politisch Miliztätige und 500 Unternehmen befragt.

Die Untersuchung zeigt Überraschendes: In 46 Prozent der Unternehmen arbeiten keine Milizpolitikerinnen und -politiker. Nur jeder zweite Betrieb macht offenbar beim Milizprinzip konkret mit. Zudem fällt auf, dass lediglich gut 20 Prozent der Unternehmen ihre Mitarbeitenden zu einer Kandidatur für ein politisches Amt ermuntern.

Er sagt: «Es würde sicher dem politischen Milizsystem helfen, wenn Unternehmen mehr machen würden. Wenn sie sich für flexiblere Arbeitszeit-Modelle einsetzen würden. Den MilizpolitikerInnen die Infrastruktur zur Verfügung stellen würden. Und insbesondere auch gegenüber den Mitarbeitern, die sich politisch engagieren, mehr Wertschätzung zeigen würden.»

Arbeitgeberpräsident kontert Kritik

Wir konfrontieren den schweizerischen Arbeitgeberverband mit den Resultaten der Untersuchung. Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt sieht in der Befragung allgemein kein schlechtes Zeugnis für Unternehmen in der Schweiz. Im Gegenteil, die Studie zeige, dass viele Unternehmen sich sehr wohl für das Milizprinzip engagieren würden, erklärt Vogt. «Ich sehe es positiv. Die Hälfte der Unternehmen ermöglicht Mitarbeitern die Ausübung eines politischen Milizamtes.»

Interessant: Vor fünf Jahren lancierten der Arbeitgeberverband und Economiesuisse eine Kampagne, um das Milizprinzip zu stärken. Auf die Frage, ob die Wirtschaftsverbände der Kampagne zu wenig Taten haben folgen lassen, antwortet Vogt: «Es sind Taten erfolgt. Unsere Vorstände sind alle im Milizprinzip unterwegs. Auch mein Amt als Präsident des Arbeitgeberverbandes ist ein Ehrenamt.» Man wolle dadurch auch andere für Milizämter begeistern, sagt Vogt.

Kandidierende fehlen

Nichtsdestotrotz, viele Gemeinden haben Mühe, ihre politischen Ämter mit geeigneten Kandidierenden zu besetzen. Für Gemeindepolitikerin Seraina Bertschinger ist es deshalb wichtig, die Rahmenbedingungen zu verbessern. «Ich glaube, es liegt nicht daran, dass die Leute nicht wollen – sie können teilweise schlicht und einfach nicht.»

Rundschau, 10.11.2021, 20.05 Uhr

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