Das Wichtigste in Kürze:
- Zahllose Angestellte verstossen regelmässig gegen das Gesetz – etwa, weil sie zu lange arbeiten oder zu kurz ruhen.
- Zwei Vorstösse im Ständerat und Arbeitgeber wollen das Arbeitsgesetz teilrevidieren: Es genüge in Sachen Arbeitszeitvorschriften heutigen Anforderungen nicht mehr.
- Der Gewerkschaftsbund hat angekündigt, sich mit allen Mitteln dagegen zu wehren. Er sieht Tür und Tor für grenzenloses Arbeiten geöffnet.
«Der Arbeitgeber ist verpflichtet, zum Schutze der Gesundheit der Arbeitnehmer alle Massnahmen zu treffen», heisst es in Artikel 6, Absatz 1 des Schweizer Arbeitsgesetzes.
Dass der Angestellte keinen Schadstoffen, keinem übermässigen Lärm ausgesetzt sein sollte – das versteht sich in der Schweiz heute vielfach von selbst. Gleichzeitig muss der Einzelne aber etwa 11 Stunden Ruhezeit einhalten, und hier fängt der Konflikt mit heutigen Arbeitsbedingungen an.
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In Zeiten der Dauererreichbarkeit gibt es vielleicht spätabends ein Telefonat auf einen anderen Kontinent. Oder man fühlt sich verpflichtet, weit nach Feierabend noch E-Mails zu beantworten. So sagt Arbeitspsychologe Theo Wehner: «Es ist eine grosse Errungenschaft, was heute in den Arbeitsgesetzen steht. Und es ist eine grosse Lücke gegenüber den modernen Arbeitsplätzen.»
Politische Vorstösse für Flexibilisierung
Aus der Wirtschaftskommission des Ständerates sind zwei Vorstösse gekommen, die das Arbeitsgesetz «flexibilisieren» wollen, wie es heisst. So sollen etwa Fach- und Führungskräfte von einer Arbeitszeiterfassung befreit werden (Heute ist dies nur für Angestellte mit hoher Autonomie und einem Bruttojahreseinkommen von mehr als 120'000 Franken möglich). Und es soll unter gewissen Bedingungen möglich sein, die Ruhezeit mehrmals pro Woche auf 8 Stunden herabzusetzen.
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«Aufweichung» ist der Begriff, den der Schweizerische Gewerkschaftsbund dafür verwendet. Auf ihrer Delegiertenversammlung am 4. November 2016 haben die Gewerkschafter angekündigt, die Vorstösse «mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen». Mit Home Office und dergleichen sei schon heute grenzenloses Arbeiten möglich. «Arbeitnehmende könnten sich wieder zu Tode schuften, wie damals, als es das Glarner Fabrikgesetz noch nicht gegeben
hatte.»
Gewerkschaftsbund: «Das wäre Wildwest»
Das Fabrikgesetz im Kanton Glarus war 1864 ein Meilenstein. Das erste Gesetz seiner Art in Kontinentaleuropa begrenzte etwa die tägliche Arbeitszeit auf 12 Stunden und verbot Kinderarbeit unter 14 Jahren.
Das heute gültige eidgenössische Arbeitsgesetz stammt von 1964. Und es funktioniere gut, findet der Schweizerische Gewerkschaftbund. Dessen Arbeitsmarkt-Experte, Luca Cirigliano, sagt, das Gesetz sei seit 1964 rund 40 Mal revidiert worden. Nach Ansicht des Gewerkschaftsbundes mangelt es aber an der Durchsetzung des Gesetzes. Es brauche mehr Kontrollen. Dafür fordert Cirigliano, psychosoziale Risiken wie übermässige Belastungen mehr in den Blick zu nehmen und Geld frei zu machen, damit etwa mehr Arbeitsinspektoren ausschwärmen können.
Im Durchschnitt alle 30 Jahre Besuch vom Arbeitsinspektor
Das eidgenössische Arbeitsinspektorat hat psychosoziale Risiken zu seinem Schwerpunkt 2014 bis 2018 erklärt. Die Zahlen allerdings zeigen: Es können Jahrzehnte vergehen, bis ein Unternehmen von einem Arbeitsinspektor besucht wird. Schweizweit gibt es nach Informationen von Valentin Lagger, Leiter der Eidgenössischen Arbeitsinspektion, rund 200 Inspektoren, und die Zielgrösse lautet: 2,3 Prozent der Unternehmen eines Kantons pro Jahr zu überprüfen.
Im Streitgespräch mit Roland Müller, Direktor des Arbeitgeberverbandes, sagt Luca Cirigliano zu den Vorstössen: «Das hat meines Erachtens nichts mit Modernisierung zu tun, sondern wäre Wildwest.» Mit Begriffen wie Fachspezialisten könnte faktisch jeder Buchhalter gemeint sein.
«Das ist Schwarzmalerei», entgegnet Arbeitgeber-Direktor Roland Müller. In seinen Augen sind die Vorstösse weitere Teilrevisionen. Branchen wie IT oder Revision seien mit dem gültigen Arbeitsgesetz nicht kompatibel. «Wir müssen die Realitäten der heutigen Zeit akzeptieren und versuchen, das Gesetz an diese anzupassen.»
Gestresste Arbeitnehmer
Ist das Arbeitsgesetz nun ein Relikt, das dringender Modernisierung bedarf? Oder ein valables Instrument, dessen Schutz wir brauchen? Fakt ist: Schon heute gelingt es immer schlechter, die psychische Gesundheit der Arbeitnehmer der Schweiz zu schützen. Sie sind belastet wie nie. Ein Viertel der Erwerbstätigen gibt in Umfragen an, sich gestresst zu fühlen. Ebenso viele fühlen sich gar erschöpft.