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Pleite von US-Medienportal Jung, hip – und insolvent: der tiefe Fall von Vice

Vice stand für ungefilterten Journalismus, der schon beim Zuschauen weh tut. Jetzt ist das US-Magazin bankrott.

Vice ist bekannt für seine schonungslosen Videos.  Ein Beispiel, bei dem das amerikanische Start-up draufhielt und sich die Bilder ins Gedächtnis der Zuschauer einbrannten: die Ausschreitungen in der US-Stadt Charlottesville 2017.

Rechtsextreme marschierten damals in der Kleinstadt in Virginia auf, reckten Fackeln in den Abendhimmel und skandierten: «Juden werden uns nicht ersetzen!» Die Bilder erinnerten an die dunkelsten Kapitel der Geschichte.

Demonstrierende stellten sich dem rechten Mob in den Weg. Mehrere Menschen wurden überfahren, eine Frau starb. Ein Demonstrant schrie in die Kamera von Vice: «Sie sind gekommen, um uns zu erwischen, wir haben sie hier nicht gewollt – sie wurden hierher gelassen!»

Drogen, Kannibalen und Islamisten

SRF-Medienredaktor Salvador Atasoy hat Aufstieg und Fall von Vice eng verfolgt, das 1994 im kanadischen Montreal als Punk-Magazin gegründet wurde und heute in New York ansässig ist.

VICE-Niederlassung in Los Angeles
Legende: Noch vor sechs Jahren war Vice fast sechs Milliarden Dollar wert. Das Unternehmen galt als hippe Medienmarke mit grosser Zukunft. Das Online- und Printmagazin erreicht mit seinen Beiträgen und Reportagen vor allem ein junges Publikum. Keystone/AP/Jae C. Hong

Mit aufwühlenden und bizarren Reportagen sorgte das Portal seither für Aufsehen. «Es punktete vor allem mit zwei Themen auf seinem Youtube-Kanal», sagt Atasoy. «Es veröffentlichte Dokus über extrem krasse, neue Drogen. Und Vice hat auch als erstes Portal über den in den 2000er-Jahren aufkommenden Islamismus berichtet – von innen her.»

Atasoy sieht in manchen Berichten durchaus verdienstvolle journalistische Arbeit. «Man tat dies mit einer neuen Art, zu erzählen. Möglichst ungeschminkt – aber auch sehr unkritisch: Mitmach-Journalismus, der schon beim Zuschauen weh tut.»

Irgendwo zwischen Kunst und Provokation

Vice feiert sich auf seinem Youtube-Kanal für seinen «mitreissenden und bahnbrechenden Journalismus». «Das wurde zunächst auch als hip gefeiert, als neue Art des Gonzo-Journalismus, wie ihn Hunter S. Thompson prägte», so Atasoy.

Will heissen: Radikale Innenansicht und subjektives Erleben statt Anspruch auf Objektivität und Ausgewogenheit. Letztlich seien die Berichte von Vice aber irgendwo zwischen Kunst, Provokation und manchmal auch Journalismus gedriftet. «Konstant gut war es aber nie.»

Vice-Journalist auf Drogenerfahrungsreise.
Legende: Viele Reportagen sandten Schockwellen in Welt hinaus. 2006 sprachen Warlords in Liberia offen über ihre menschenverachtenden Bluttaten. Auch andere Dokus entführten die Zuschauer in die Abgründe der menschlichen Existenz – so etwa ein schockierend offenes Interview mit einem japanischen Kannibalen. Bild: Vice-Journalist auf Drogenerfahrungsreise. Screenshot Vice

Nun ist Vice zahlungsunfähig und stellt sich selbst zum Verkauf. Atasoy sieht zwei Hauptgründe für das spektakuläre Scheitern des Magazins. «Zum einen hat man sich schlicht verzettelt.» So hat Vice zuletzt von Filmen bis hin zum Modejournalismus enorm breite Themen und Geschmäcker bedient. «Es wurde zu einem verschachtelten, komplexen und unüberschaubaren Imperium.»

«Von Innen heraus implodiert»

Dazu kamen auch Kredite und zu viele Schulden, die das Medienhaus bedienen musste: «Irgendwann ging die Rechnung schlichtweg nicht mehr auf und Vice ist quasi von innen heraus implodiert», schätzt Atasoy. Am Ende war es aber ein Niedergang mit Ansage. Denn Gerüchte, wonach Vice insolvent ist, gab es schon seit Monaten.

Deutschsprachiger Ableger bereits zurechtgestutzt

Box aufklappen Box zuklappen

Vice ist nicht nur in den USA tätig, sondern hat sich auch im deutschsprachigen Raum positioniert. In Deutschland, Österreich und der Schweiz expandierte es wie in 30 weiteren Ländern im Schnellzugtempo. Die Redaktion in Deutschland wuchs Mitte der 2000er-Jahre von fünf Leuten auf 140 – die Dokus liefen bald auf RTL und Spiegel Online. Zudem holte man renommierte Journalistinnen und Journalisten mit an Bord.

«2017 bis 2018 folgte dann aber der Zerfall», sagt Medienredaktor Atasoy. «Man zentralisierte damals alles nach Berlin und die Ableger in der Schweiz und Österreich wurden auf ein Minimum reduziert. Das Werbegeschäft und das Interesse waren einfach nicht so gross, wie man sich es erhofft hatte.»

Vice ist nicht das einzige Medienportal, das zuletzt in Schieflage geraten ist. Befeuert wird die Entwicklung von der Online-Werbekrise in den USA. So mussten auch andere namhafte Titel Federn lassen: Bei der renommierten «Washington Post» gab es Entlassungen, Buzzfeed musste seine Pulitzer-Preis-gekröntes digitales News-Portal schliessen.

«Das Scheitern von Vice ist nun der vorläufige Höhepunkt dieser Krise», schliesst Medienexperte Atasoy. Nun wird das Unternehmen verkauft und das Business restrukturiert. «Geschichten wie: ‹Ich bin ein Pornostar, mein Partner nicht – so haben wir Sex› wird man also auch weiterhin lesen.»

SRF 4 News, 16.05.2023, 8:20 Uhr ; 

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