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Textilindustrie 4.0 Kleider nach Mass aus dem Internet

Ein japanischer Konzern entwickelte ein App zum Massnehmen für Laien. Solche Apps könnten die Textilindustrie verändern.

Verschiedene Probleme plagen die Textilbranche:

  • Überproduktion: Eine beachtliche Zahl an Kleidungsstücken bleibt in den Läden liegt und wird entsorgt, verbrannt.
  • Lange Zyklen: Ein Laden muss mit einem Vorlauf von einem halben Jahr bestellen. Damit steigt das Risiko, auf der Ware sitzen zu bleiben, wenn etwa das Wetter nicht mitspielt.
  • Preisexplosion: Während bei der Produktion der Kleider minutiös auf die Kosten geachtet wird, steigen die Preise zwischen Fabrik und Laden um einen Faktor zwischen zwei und sechs.

3D-Modell des Körpers hat Potenzial

Zur Minderung oder Lösung dieser Probleme könnte verändertes Kundenverhalten beitragen. Voraussetzung dafür sind Apps auf dem Smartphone, mit denen die Kunden ihre Körpermasse erfassen können.

Verschiedene Startups bieten solche Apps an: Beim japanischen Online Händler Zozo kann man sich nicht nur vermessen, sondern auch noch massgeschneiderte Kleider bestellen.

Kleider nach Mass von Zozo: Wir haben es ausprobiert

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Seit diesem Sommer bietet der japanische Textilkonzern Zozo massgeschneiderte Kleider an. Der Kunde misst und bestellt mit einer App.

Wir haben die bestechende Idee getestet, die auf den ersten Blick einfach wirkt: Wir schlüpfen in einen hautengen, dunklen Anzug, auf dem ein paar Dutzend helle Messpunkte angebracht sind. Dann stellen wir unser Smartphone auf einen Tisch und drehen uns vor der Kamera im Kreis. Alle wichtigen Masse wie Taille-, Hüft-, und Brustumfang sind nun erfasst.

Effektiv benötigten wir dann aber mehrere Versuche: Mal steht man zu nahe, mal zu weit weg, es ist zu dunkel oder zu hell und die App findet die Messpunkte nicht. Schliesslich klappt die Vermessung und wir schicken unsere Bestellung aus der App ab: Eine Bluse, ein T-Shirt und eine Jeans.

Zozo berechnet nun das Schnittmuster und leitet die Bestellung weiter nach China, wo die Kleider produziert werden. Einen Monat später trifft die Hose ein, die beiden Oberteile brauchen noch etwas länger.

  • Die positive Überraschung: Alle Kleider sind von guter Qualität und sauber verarbeitet. Die Jeans passen.
  • Die negative Überraschung: Die Oberteile passen nicht. Offenbar ging vergessen, dass Frauenkörper Brüste haben.

Es gebe tatsächlich noch einiges zu verbessern, bestätigt Susanne Burger, Geschäftsführerin von Zozo Europe.

Das Schweizer Startup Selfnation vertreibt seit mehreren Jahren Hosen in verschiedenen Ausführungen, die auf den Leib geschneidert sind. Ab Mitte November stellt Selfnation eine selbst entwickelte App zur Verfügung, die aufgrund von drei Fotos und mit Hilfe von künstlicher Intelligenz die für Hosen relevanten Körpermasse berechnet. Daraus werden dann die individuellen Schnittmuster generiert.

Das Zürcher Startup Fision bietet keine fertigen Kleider an. Das Technik-Unternehmen konzentriert sich auf die Erfassung der Körpermasse und die Generierung eines dreidimensionalen Models. Alles, was es dazu braucht, sind zwei Fotos und die Angabe von Geschlecht und Grösse. Daraus wird dann das Modell des Körpers berechnet, ein sogenannter Avatar.

Ist der Körper einmal erfasst, eröffnet das der Branche ganz neu Möglichkeiten.

  • Individueller: Das Modell des Körpers kann als Basis für massgeschneiderte Kleider dienen.
  • Präziser: Kundinnen können beim Onlineshoppingvirtuelle Kleidungsstücke an ihrem Avatar überprüfen. Sie sehen nicht nur, welche Grösse sie benötigen, sondern auch, ob der Schnitt zur eigenen Figur passt.
  • Effizienter: Die Onlineanbieter profitieren davon, dass ihre Kunden besser abschätzen können, was sie brauchen. Unnötige Rückgaben entfallen.

Zwischenhandel auslassen

Die neuen Vermessungs-Apps für massgeschneiderte Kleider greifen dort ein, wo die Kosten explodieren: Zwischen Fabrik und Vertrieb. Sie verbinden den Kunden direkt mit dem Konfektionär, dem industriellen Schneider am Schluss der Produktionskette. Bestellt der Kunde seine Ware direkt beim Hersteller, wird der Prozess effizienter, weil die Fabrik nur noch produziert, was tatsächlich gewünscht wird.

Textilproduktion: Vom Rohstoff zur fertigen Kleidung

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Die Textilbranche war die erste Branche, die während der Industrialisierung Handarbeit automatisierte. Bis zum fertigen Kleidungsstück sind heute vier Produktionsschritte notwendig:

  1. Garnherstellung
  2. Flächenherstellung (z.B. Weben, Stricken)
  3. Veredelung (z.B. Färben oder Drucken)
  4. Konfektion (Schneidern).

Der textile Rohstoff (also die Faser) durchläuft mindestens 50 verschiedene Maschinen oder einzelne Produktionsschritte, erklärt Giuseppe Gherzi, Berater für die Textilindustrie.

Bis auf den letzten Schritt verrichten vor allem Maschinen die Arbeit. Das Nähen ist nach wie vor Handarbeit.

Während des ganzen Prozesses bleiben die Kosten unter Kontrolle. Doch ganz am Schluss, wenn die Kleider die Fabrik verlassen und in die Läden kommen, explodieren die Preise.

Die Gründe dafür sind die teuren Ladenmieten an begehrter Lage, das Risiko, auf unverkaufter Ware sitzenzubleiben aber auch die handfesten Margen, die bestimmte Brands durch geschicktes Marketing erzielen.

Doch bis die Branche in der Lage ist, im grossen Stil massgeschneiderte Textilien zu liefern, braucht es gewaltige Umstellungen: «Die ganze Produktion ist auf Masse ausgerichtet, nicht auf individuell angepasste Einzelstücke» sagt Yvonne Bieri, verantwortlich für Sales und Marketing bei der Fision AG. Das gilt auch für das Nähen der Kleidungsstücke, obwohl das fast ausschliesslich noch Handarbeit ist.

Zwar gibt es erste Roboter, die T-Shirts in durchschnittlicher Qualität zusammennähen können, doch die Entwicklung steht am Anfang. Da Stoff biegsam ist und gewisse Nähvorgänge im Raum stattfinden (Rund-Naht am Ärmel), ist die Automatisierung sehr anspruchsvoll.

Die Revolution wird zur Evolution

Die Umstellung von Massenproduktion auf Textilien nach Mass braucht Zeit. Dennoch könnten die Vermessungs-Apps dazu beitragen, dass die Textilindustrie effizienter wird, zum Beispiel beim herkömmlichen Onlineshopping: Mit einem Avatar kann eine Kundin zu Hause am Bildschirm virtuelle Kleider an ihrer digitalen Kopie ausprobieren. Sie sieht, welcher Schnitt zu ihrer Figur passt und welche Grösse sie benötigt. Die Kundin bestellt dann, was ihr steht und erst noch auf Anhieb in der richtigen Grösse. Die Zahl der teuren Rücksendungen wird reduziert.

An dieses Shoppingverhalten im virtuellen Raum müssten sich die Kunden aber gewöhnen, meint Yvonne Bieri von der Fision AG. Sie ist überzeugt, dass die Erfahrungen mit dem virtuellen Raum, die immer mehr Menschen beim Gamen sammeln, dabei helfen. Trotzdem werde der Kleiderladen nicht einfach verschwinden. Die Marketingfachfrau sieht die neuen Apps viel mehr als Ergänzung zum bestehenden Angebot.

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