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Top-Ökonom Sinn zu Europa «Länder sollen in den Euro ein- und austreten können»

Der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn hält wenig von den Plänen des neuen französischen Präsidenten. Und er sieht in Italien die grösste Gefahr für den Euro.

Wie steht es heute um den Euro?

Die Krise ist jedenfalls nicht überwunden. Wir versuchen jetzt mit ganz lockerem Geld die Binnensektoren im Süden Europas zu stärken. Die Bauwirtschaft kommt auch wieder hoch und Spanien hat schon wieder drei Prozent Inflation. Aber was ist mit dem verarbeitenden Gewerbe, das im internationalen Wettbewerb steht? Dort sieht es überhaupt nicht gut aus: Spanien liegt noch ein Viertel unter dem Vorkrisenniveau, Italien rund ein Fünftel. Selbst Frankreich hängt beim verarbeitenden Gewerbe in den Seilen und hat seit etwa 2010 keinerlei Wachstum mehr.

Warum sind wir in dieser Situation? Was ist das Problem?

Sie können die Wirtschaft im Prinzip unterteilen in einen Binnensektor und in einen Sektor, der im internationalen Handel gefangen ist. Den Binnensektor können sie immer künstlich hochschieben: durch Staatsverschuldung, durch billige Kredite der Zentralbank – dann belebt er sich. Aber das hilft dem anderen Sektor nicht. Und nur am Erfolg des verarbeitenden Gewerbes sieht man, ob die Wirtschaft an sich intakt ist. Es ist sogar so: Wenn sie den Binnensektor beleben, erhalten Sie ein Lohnniveau aufrecht, das der Produktivität des Landes gar nicht entspricht. Das bereitet dem verarbeitenden Sektor noch mehr Schwierigkeiten. Und genau das ist die Situation in Europa.

Wir haben ein fundamentales Strukturproblem.

Sie halten das Vorgehen der Europäischen Zentralbank also für verfehlt.

Die EZB hat versucht, fiskalische Wachstumspolitik zu machen und keynesianische Massnahmen durchzusetzen, um die Wirtschaft zu beleben. Das ist überhaupt nicht ihre Aufgabe. Sie sollte die Preisstabilität wahren und nicht Konjunkturpolitik machen, zumal es ja gar kein Konjunkturproblem ist. Wir haben ein fundamentales Strukturproblem. Südeuropa ist in der inflationären Kreditblase, die der Euro in den Jahren bis 2008 hervorrief, viel zu teuer geworden. Und bräuchte jetzt eigentlich eine Abwertung durch die eigene Währung, die es mit dem Euro aber nicht gibt.

Die einzelnen Staaten wären also gefragt?

Die Mitgliedsstaaten haben im Wesentlichen strukturelle Aufgaben: Man muss den Arbeitsmarkt liberalisieren, insbesondere in Frankreich, so dass das Lohngefüge in Bewegung kommt und das Land allmählich wieder wettbewerbliche Produktionsstrukturen entwickelt.

Die EZB sollte zu normalen Zinsen zurückkehren.

Und was müsste die EZB aus Ihrer Sicht tun?

Sie sollte sich zurücknehmen, sie sollte zu normalen Zinsen zurückkehren. Denn Teile der Eurozone sind überhitzt. Deutschland etwa, schauen sie sich den deutschen Immobilienmarkt an, da bildet sich eine neue Blase. Aber wenn die EZB die Zinsen erhöht, hat der Süden natürlich Probleme.

Braucht es deshalb grundsätzliche Reformen?

Ja, wir brauchen eine atmende Eurozone. Länder, die nicht zurechtkommen, sollen austreten können und später wieder zurückkehren. Wir brauchen eine Konkursordnung für Staaten, um die No-Bail-Out-Klausel des Maastrichter Vertrages mit Leben zu erfüllen. Es muss klar sein, dass die Gläubiger eines Euro-Staates ihr Geld verlieren können. Erst wenn sie das wissen, werden sie diese Staaten nicht mehr so grosszügig finanzieren und die Staaten können das Geld nicht unsinnig ausgeben, sondern müssen vorsichtiger haushalten.

Zahlt im Moment der Norden für den Süden?

Die Bundesbank hat netto Zahlungsaufträge von 843 Milliarden Euro für andere Zentralbanken des Euro-Systems durchgeführt. Im Gegenzug wurden Wertpapiere ins Ausland geliefert, wurden Autos geliefert. Die Verkäufer denken, sie werden ja bezahlt, kriegen Geld. Aber das Geld ist von der Bundesbank gemacht, es ist eine Forderung gegen die Bundesbank und die Bundesbank hat eine Ausgleichsforderung gegen andere Notenbanken. Die aber niemals fällig gestellt wird, die auch keinen Zins trägt und die sich – sollte der Euro platzen – in Luft auflösen wird.

Wahrscheinlicher als der Zusammenbruch ist eine Transferunion.

Wird der Euro trotzdem überleben?

Wahrscheinlicher als der Zusammenbruch des Euro ist eine Transferunion. Macron hat ja schon Vorlagen geliefert, Renzi in Italien wollte das auch. Wer weiss, ob die beiden nächstes Jahr einen Schulterschluss üben können: Man macht dann ein gemeinsames Budget, das sich durch gemeinsame Schulden – Eurobonds – finanzieren darf. Es gibt Transfers über eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung vom Norden in den Süden. Auf diese Weise könnte der fehlende Markt im Süden ersetzt werden. Aber es wäre sehr teuer und hielte den Süden in dauerhafter Abhängigkeit. Das wäre ganz ähnlich wie innerhalb Italiens der Mezzogiorno, also Süditalien. Der wird schon seit einem halben Jahrhundert durch den Norden finanziert und kommt deshalb als wettbewerbsfähiger Standort nie auf die Beine.

War Macrons Wahl ein gutes Zeichen für Europa?

Wir können natürlich durchatmen, dass Marine Le Pen nicht gewählt wurde. Aber wenn man sich anschaut, was Macron so will, ist es aus deutscher Sicht eine ziemliche Zumutung. Eigene schmerzliche Reformen will er nicht angehen, etwa hinsichtlich der 35-Stundenwoche oder dem Rentenalter. Stattdessen will Macron auf eine gemeinsame europäische Kasse mit einem gemeinsamen Finanzminister und einem EU-Budget hinaus. Das sieht das deutsche Establishment mit grosser Sorge und ich persönlich auch.

In Italien haben wir starke Kräfte, die den Euro-Austritt wollen.

Macron am Montag bei Merkel

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Bereits einen Tag nach der Amtsübernahme am Sonntag wird der neue fränzösische Präsident Emmanuel Macron nach Berlin reisen. Es ist Macrons erster Antrittsbesuch im Ausland. Merkel hatte am Donnerstagabend erklärt, sie wolle mit einem Investitionsprogramm auf Macron zugehen und über weitere Massnahmen zur Stärkung der Eurozone sprechen.

Von welchem Land geht für die Eurozone derzeit die grösste Gefahr aus?

Politisch geht die grösste Gefahr von Italien aus. Denn wir haben starke Kräfte in Italien, die einen Austritt wollen. Cinque Stelle mit Beppe Grillo hat das erklärt, aber auch Berlusconi mit Forza Italia will eine Parallelwährung. Dann haben wir noch die Lega Nord, die dem Euro gegenüber ebenfalls kritisch eingestellt ist. Würde heute gewählt, entfielen wohl über 50 Prozent der Stimmen auf Parteien, die den Euroaustritt wollen.

Und was dann?

Wenn Italien austritt, dann wird es schwierig für die Eurozone. Dann kämen sehr komplexe Umbewertungsprozesse in Gang. Was ist mit all den Schulden, die die Italiener haben? Da wird es bei den anderen grosse Abschreibungsverluste geben. Aber die Welt geht nicht unter. Ich wünsche das allerdings nicht, Italien sollte im Euro bleiben.

Das Gespräch führte Andreas Kohli

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