Zwangsarbeit in Fabriken – das war für junge Frauen in der Schweiz, die als «liederlich» oder «arbeitsscheu» galten, bis in die 70er-Jahre normal. Der Staat hat sie in Heimen versorgt, diese haben sie in Textil- oder Uhrenfabriken geschickt, wo sie schuften mussten. Der Lohn ist ans Heim geflossen. Teilweise haben die Frauen einen kleinen Betrag davon erhalten, wenn sie das Heim verlassen konnten.
Die Fabrikheime waren damals bei den Behörden beliebt, denn sie seien besonders günstig gewesen, erklärt Yves Demuth. Der «Beobachter»-Journalist hat die Geschichte der Fabrikarbeiterinnen aufgedeckt: «Die Frauen mussten mit ihrem eigenen Lohn ihre Wegsperrung finanzieren.» Das mache man ja nicht mal mit Gefangenen im Gefängnis.
Das Zwangssystem: Staat, Heime und Industrie haben profitiert
Die jungen Frauen waren ohne Urteil und ohne anwaltschaftliche Rechte versorgt und zur Arbeit gezwungen worden. Sie gehören zu den rund 60'000 Kindern und Jugendlichen, die der Staat in Anstalten versorgt hatte. Bekannter sind die Geschichten der Verdingbuben, die auf Bauernhöfen arbeiten mussten. Aber auch die versorgten Mädchen waren in den Nachkriegsjahren gefragte Billigarbeitskräfte.
Industrielle der Textil- und Uhrenindustrie haben sie ausgebeutet. Der bekannteste unter ihnen ist Emil Bührle. Er ist auch dank der billigen Arbeit administrativ Versorgter mit seiner Spinnerei zum damals reichsten Mann der Schweiz geworden. Er war aber nur einer von vielen, die von der Zwangsarbeit der jungen Frauen profitiert haben.
Und dabei ist Zwangsarbeit auch in der Schweiz seit den 1940er-Jahren verboten. Die Behörden haben sich aber nicht daran gehalten. «Man hat damals an die gute psychologische Wirkung der Erziehung zur Arbeit geglaubt», erklärt Demuth.
Der Staat versorgte unliebsame junge Frauen in Fabrikheimen, um sie zur Arbeit zu erziehen. Die Industrie konnte auf die gefügigen Billigarbeiterinnen zählen und die Heimleiter auf Insassinnen, die ihren Platz selbst bezahlten. Sie alle haben vom Zwangssystem profitiert.
Ein Ende fand das Ausbeutungssystem nicht, weil die Behörden einsichtig waren. Erst als in den 70ern die Konjunktur abflaute und das System für die Industrie nicht mehr aufging, schlossen die letzten Fabrikheime ihre Türen. «Ohne Beschäftigung in den Fabriken haben auch die Fabrikheime nicht mehr funktioniert», sagt Demuth. «Das zeigt, dass die Fabrikheime auf die Bedürfnisse der Industrie zugeschnitten waren und nicht auf jene der Betroffenen.»
Die rebellische Ursula Lüscher
Eines der Fabrikmädchen war Ursula Lüscher. Die heute 79-Jährige hat eine lange Heimkarriere hinter sich. Ihre «Endstation», wie sie selber sagt, war das Töchterheim Sonnenberg in Walzenhausen. Das Fürsorgeamt Zürich hat sie dort als 16-Jährige versorgt, weil sie sich mit ihrem Chef überworfen hatte. Sie musste in einer Textilfabrik arbeiten. Von früh bis spät haben sie und ihre Kolleginnen Säume von Taschentüchern abgeschnitten, gelernt hätten sie dabei wenig, sagt Lüscher.
Zu Beginn habe sie sich Mühe gegeben, sei brav gewesen, erzählt Lüscher. «Meine Tante hatte mir versprochen, dass sie mich zu sich holt, wenn ich mich anständig benehme.» Nach ein, zwei Monaten habe sie den Heimleiter gefragt, ob sie nach Hause dürfe. Er habe gesagt: «Was wollen Sie? Du bleibst schön hier.» Von da an habe sie alles gemacht, was «Gott verboten habe».
Und auch in der Fabrik kam es schnell zum Eklat: Sie habe während der Arbeit mit den anderen Mädchen geschwatzt. Das habe dem Fabrikleiter nicht gepasst: «Ihr sollt nicht schwatzen, sondern arbeiten!», habe er zu ihnen gesagt. Darauf habe sie ihn als Sklaventreiber beschimpft und sei hochkant hinausgeworfen worden.
Der Heimleiter sei darüber gar nicht erfreut gewesen, denn ohne Arbeit kein Verdienst und damit auch keine Finanzierung des Heimplatzes. Er habe sie in den Arrest gesperrt. Darauf habe sie die Türe des Arrests geschlissen, wie Lüscher sagt. Denn: «Geschlossene Türen habe ich nicht vertragen, weil ich als Kind im Heim Kastelen so oft in den Kerker gesperrt worden bin.»
Der Alltag im Töchterheim Sonnenberg in Walzenhausen
Arbeiten musste Ursula Lüscher trotzdem weiter, fortan einfach im Heim statt in der Fabrik. Arbeit gabs genug, denn die jungen Frauen mussten neben der Schichtarbeit in der Fabrik auch noch den Haushalt selber schmeissen, angestellt war nur eine Köchin.
Das System in Walzenhausen ist besonders gut dokumentiert: Das Heim war eine Privatfirma, eigentlich eine Art Pension. Staatliche Aufsicht gab es nicht. Der Heimleiter kooperierte dagegen eng mit den Industriellen, sie gaben ihm Darlehen für neue Bauten, damit er ihnen günstige Arbeitskräfte vermittle. Zwei Industriebetriebe haben ihm sogar monatlich eine Provision bezahlt.
Davon wusste Ursula Lüscher nichts, am Zwangssystem gestört habe sie sich aber sehr wohl, an den zahlreichen sinnlosen Verboten und dem Punktesystem: «Die Mädchen mussten am Tisch von der Fabrik berichten und sich gegenseitig verpetzen.» Wer brav berichtet habe, habe Punkte gekriegt, andere seien bestraft worden. Jene mit vielen Punkten durften dann fernsehen oder Tischtennis spielen, während die mit wenigen Punkten zusätzliche Hausarbeit leisten mussten. Mit ihr durften die anderen Mädchen mit der Zeit gar nicht mehr sprechen.
Die Fehde mit dem Heimleiter
Mit dem Heimleiter hat sie eine regelrechte Feindschaft gepflegt: Er habe es irgendwann nicht mehr ausgehalten mit ihr und sie nach Herisau in die Psychiatrie eingeliefert. Dort habe man ihr zwar bescheinigt, dass sie keinerlei psychische Probleme habe. Doch statt freizukommen, kam sie wieder zurück ins Töchterheim Sonnenberg. Erst mit 18 durfte Ursula Lüscher dann gehen: «Billett einfach nach Basel.»
Als ich dann rauskam und mein Leben selbst in die Hand nehmen konnte, da ist es mir gut gegangen.
Nach ein paar Jahren sei sie aber ins Appenzellerland zurückgekehrt, um dem Heimleiter das Handwerk zu legen. Wenn die Frauen abgehauen seien, habe sie ihnen geholfen, zu fliehen. Sie habe ihm so viele Steine in den Weg gelegt, wie irgend möglich. Er habe sie darauf verklagt und sie musste vor Gericht, erklärt Lüscher. Daraufhin durfte sie das Heimgelände nicht mehr betreten.
Das sei schon aussergewöhnlich, erklärt Demuth: «Dass sich jemand so stark wehrt, ist unüblich. Dass sie nicht zerbrochen ist, zeigt, was für eine starke Person sie war.» Viele andere hätten das nicht so gut wegstecken können und hätten sich das Leben genommen oder ihr Trauma in Alkohol ertränkt.
Zwei Entschuldigungen, zwei Solidaritätsbeiträge, aber keine Wiedergutmachung
Ursula Lüscher habe in ihrem Leben auch viel zu viel Alkohol getrunken, sagt sie. «Aber mich konnte man nicht brechen.» Sie habe das nicht zugelassen, und das sei ihr Glück: «Als ich dann rauskam und mein Leben selbst in die Hand nehmen konnte, da ist es mir gut gegangen.»
Sie hat eine Tochter bekommen, viele Jahre in einer Autogarage gearbeitet und ist ein schnelles Cabrio gefahren. Zwei Bundesrätinnen haben sich bei ihr und den anderen administrativ Versorgten entschuldigt und die Betroffenen haben vom Bund einmalig einen Solidaritätsbeitrag von 25'000 Franken erhalten. Die Stadt Zürich hat Ursula Lüscher und den anderen Zürcherinnen nochmal denselben Betrag bezahlt. «Ich bin dankbar dafür», sagt Lüscher, ob das jetzt genug oder gerecht sei, darüber mache sie sich keine Gedanken.
Eine eigentliche Wiedergutmachung ist das aber nicht: Die Arbeitsausbeutung hatte weder für die damaligen Behörden noch für die Heimleiter oder Fabrikbesitzer juristische Konsequenzen. Die Geschichte der Mädchen in den Fabrikheimen ist noch bei weitem nicht aufgearbeitet. Die Recherche von Yves Demuth hat sie gerade erst ans Tageslicht gebracht.