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Warnruf der Reichen Kritik am Kapitalismus – von seinen grössten Profiteuren

Millionenschwere Manager fordern ein Umdenken. Erste Firmen in der Schweiz setzen auf eine andere Art des Wirtschaftens.

Ray Dalio ist Gründer und Chef von Bridgewater Associates, einem der grössten Hedgefonds der Welt. Schätzungen zufolge soll Dalios Jahreslohn über einer Milliarde Dollar liegen.

Zu verdanken hat er seinen Reichtum auch dem freien Markt. Mit diesem bekundet er jetzt so seine Mühe. «Der Kapitalismus schafft einen fürchterlichen Graben», sagte er jüngst in einem Interview mit CNBC.

Der Graben wachse, wenn der Kapitalismus nicht refomiert werde. «Und reformieren heisst verbessern.»

Angst vor Revolution

Auf dem Business-Netzwerk LinkedIn wägte Dalio Kapitalismus und Sozialismus gegeneinander ab. Kapitalisten könnten den Kuchen nicht gerecht verteilen, schrieb er, und Sozialisten könnten ihn nicht vergrössern.

Mann in Anzug vor Bergkulisse.
Legende: Jahreslohn von mehr als 1 Milliarde Dollar – und Kapitalismus-Kritiker: Ray Dalio. Keystone

Sein Fazit: «Entweder spannen Anhänger unterschiedlicher Ideologien zusammen und setzen das System neu auf (…). Oder wir werden eine Art Revolution haben, die uns allen schadet».

Oben zu viel, unten zu wenig

Kritik an den Auswüchsen des Kapitalismus – und das aus dem innersten Zirkel. Dalio steht damit nicht allein.

Jamie Dimon, Chef der US-Bank JP Morgan mit einem Jahreslohn von 31 Millionen Dollar, sagte jüngst in einem CNN-Interview, vor 30 oder 40 Jahren habe man sich mit harter Arbeit nocht hocharbeiten können, sich ein Haus, ein Auto und eine Familie leisten. «Das ist heute nicht mehr so.»

JP-Morgan-Chef Jamie Dimon
Legende: JP-Morgan-Chef Jamie Dimon: «Das kann durchaus bedingen, dass Reiche mehr Steuern bezahlen müssen.» Keystone

Im jüngsten Brief an die Aktionäre schreibt er, man könnte Reiche stärker zur Kasse bitten. Es brauche einen besseren Kapitalismus. Mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur und Schulen. Dimon wörtlich: «Das kann durchaus bedingen, dass Reiche mehr Steuern zahlen müssen».

Es wäre nichts Neues für die USA. Noch in den 60er-Jahren wurden Spitzeneinkommen mit über 90 Prozent besteuert. Heute liegt der Satz bei 37 Prozent.

Junge schwärmen vom Sozialismus

Warum sorgen sich millionenschwere Manager um den Kapitalismus und dessen Auswüchse? Wohl auch, weil eine neue Generation von Meinungsführern dem Sozialstaat das Wort redet.

Zum Beispiel Alexandria Ocasio-Cortez. Die 29-Jährige sitzt für die Demokraten im US-Kongress. Will Grossbanken zerschlagen. Jobgarantien für alle. Höhere Staatsausgaben, etwa für Universitäten ohne Studiengebühren.

Mehr Staat, das kommt gerade bei Jungen an. Gemäss einer Gallup-Umfrage unter 18- bis 29-jährigen Amerikanern haben 51 Prozent ein positives Bild vom Sozialismus. Aber nur noch 45 Prozent vom Kapitalismus – ein Drittel weniger als vor zehn Jahren.

Skyline New York.
Legende: Der Kapitalismus hat uns reich gemacht. Inzwischen gilt das Wohlstandsversprechen nicht mehr für alle. Keystone

Entwicklungsökonom Paul Collier beschreibt im Interview zwei negative Entwicklungen der letzten 30 Jahre, die es zu korrigieren gilt. Dafür fordert er Unternehmen und Gesetzgeber zum Handeln auf.

Paul Collier

Ökonom Oxford University

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Paul Collier ist Professor für Ökonomie und Direktor des Zentrums für afrikanische Ökonomien an der Blatavnik School of Government der Universität Oxford. Zuvor war er Forschungsleiter der Weltbank. Das neuste Buch des britischen Wirtschaftswissenschaftlers heisst «The Future of Capitalism». Nobelpreisträger George Akerlof bezeichnete es als «die revolutionärste sozialwissenschaftliche Arbeit seit Keynes».

SRF: Welche Risse in der Gesellschaft stellen Sie fest?

Paul Collier: Seit etwa 1980 gibt es erstens auf der einen Seite die boomenden Metropolen und auf der anderen die Provinzstädte, die zugrunde gehen. Dafür verantwortlich ist die Globalisierung: Es gibt weniger, dafür grössere Gewinner.

Zweitens hat sich während der 200 Jahre vor 1980 die Lücke zwischen Gebildeten und weniger Gebildeten verringert. Seit 1980 hingegen vergrössert sie sich.

Ist Bildung die Lösung?

Die Bildungskluft zu beseitigen, hiesse, dass auch die 60 Prozent der Bevölkerung, die intellektuell nicht besonders begabt sind, produktiv sein können. Die Lösung wäre sozialer Maternalismus, wie ich es nenne: eine Kette, die sich durch ein Leben zieht – vom Neugeborenen bis zum produktiven 24-Jährigen, der etwas zur Gesellschaft beitragen will.

In der Schweiz funktioniert diese Kette sehr gut. Aber das gilt für die wenigsten Länder. Grossbritannien und die USA sind völlig gescheitert.

Was müssen wir denn jetzt am dringendsten tun?

Unternehmen müssen wieder moralische Verantwortung übernehmen. In den letzten 40 Jahren wurde diese moralische Verantwortung den Menschen, Familien und Unternehmen jedoch entzogen und dem Staat übertragen. Der Staat ist damit die einzige moralisch handelnde Instanz.

Die Rechten und Linken sind gemeinsam gegen mich. Darauf bin ich stolz.
Autor: Paul Collier Ökonom

Kann man sie denn zwingen, sich ethisch korrekt zu verhalten? Ist das keine naive Vorstellung?

Wir können ihnen erlauben, ethisch korrekt zu sein. Laut britischem Gesetz dürfen sie das zurzeit gar nicht. Per Gesetz schulden Geschäftsführer einzig ihren Aktionären Rechenschaft. Und die Aktionäre sind in Grossbritannien völlig anonym, verstreut auf den Kapitalmärkten.

Das gesamte Interview

Die Geschäftsführer sind auf sich gestellt und mühen sich händeringend ab, die Quartalsgewinne ständig in die Höhe zu treiben, weil sonst Aktienverkäufe und Übernahmen drohen.

Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Meinung nach, dass Ihre Ideen umgesetzt werden?

Der Widerstand ist minimal. Der einzige Widerstand regt sich im extrem rechten sowie extrem linken politischen Flügel. Die Rechten prangern mich an, weil sie weiterhin völlig freie Bahn für den Kapitalismus wollen, die Linken wollen den Kapitalismus ganz abschaffen.

Gemeinsam sind sie gegen mich. Darauf bin ich ziemlich stolz. Aber abgesehen davon erfahre ich keinen Widerstand – auch nicht aus der Geschäftswelt.

Das Interview führte Reto Lipp.

Neue Ideen für die Wirtschaft

Eine direkte Folge des Raubbau-Kapitalismus der vergangenen Jahrzehnte: Die Natur leidet so schlimm wie nie. Allein die Schweizer verbrauchen gemäss «Global Footprint Network» mit ihrem Lebenswandel 2.9 Erden pro Jahr.

Dass das auf Dauer nicht so weiter gehen kann, leuchtet wohl jedem ein. Kein Wunder, dass in der Schweiz eine Idee in Mode kommt, die unsere bisherige Art zu wirtschaften umkrempelt: Kreislaufwirtschaft.

Das Ziel: die Rohstoffe im Kreislauf zu halten statt zu verbrauchen und so kaum noch Abfall zu produzieren.

Ikea will bis 2030 kreislauffähig sein

Ausgerechnet Ikea, bisher erste Adresse für kurzlebige Massenmöbel, stellt sich in die erste Reihe: Bis 2030 – verspricht der schwedische Milliardenkonzern – sollen alle Produkte aus erneuerbaren oder recycelten Materialien hergestellt werden.

Ein ganz hohes Ziel. Denn Kreislaufwirtschaft ist komplex, dessen ist sich auch Franziska Barmettler bewusst. Sie verantwortet den Bereich Nachhaltigkeit bei Ikea Schweiz. «Wir wollen Produkte so designen, dass sie wiederverwertet werden können, vielleicht auch zu einem anderen Zweck, und dass sie möglichst lange leben und eben nicht im Abfall landen müssen.»

Albin Kälin berät Unternehmen seit 25 Jahren, wie sie auf Kreislaufwirtschaft umstellen können. Was Ikea vorhabe, sei machbar, urteilt der Spezialist. Dennoch: «Die ganzen toxischen Substanzen rauszunehmen, das ist extreme Arbeit, weil man die gesamte Lieferkette global bis zur letzten Chemiefirma irgendwo in Indien oder China involvieren muss. Das zu schaffen, ist extrem schwierig.»

Ikea sei es sehr ernst, entgegnet Barmettler «ECO»: «Sonst können wir den Laden morgen zumachen.»

Neue Bewegung: «Circular Economy Switzerland»

In Kreisläufen denkt man inzwischen auch in Basel. Im Februar entstand das Netzwerk «Circular Economy Switzerland» auf Initiative der Stiftungen von Migros und Roche. Ihr Ziel: In drei bis vier Jahren Kreislaufwirtschaft in der Schweiz zu etablieren.

Mit dabei sind bis jetzt die grössten Schweizer Städte Bern, Basel, Zürich, Lausanne. Genf soll folgen. Ihr Fokus: im öffentlichen Beschaffungswesen mehr in Kreisläufen zu denken. Je schneller, desto besser.

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