SRF News: Ms. Stingelin. Es ist nicht ganz einfach, ihre Forschung zu verstehen. Was machen Sie genau?
Natalie Stingelin: Der Grossteil meiner Forschungsarbeiten ist auf Kunststoffe fokussiert. Konkret versuchen wir im Team, neue Formen von eben diesem Material zu erfinden.
Was motiviert Sie dazu?
Mit neuen Kunstoffen sind neue Anwendungsmöglichkeiten verbunden. Im Bereich der Photovoltaik wollen wir etwa neue Solarzellen entwickeln. Anders als die handelsüblichen Silizium-Zellen haben sie keine Farbe, sondern sind durchsichtig. Im Sinne einer «smart architecture» müssen sie dann nicht mehr notwendig auf Dächern montiert, sondern können etwa in Fenster eingebaut werden. Aus Kunststoff gefertigt, würden sie die Produzenten dann womöglich wie Zeitungen drucken und auf grösseren Flächen anwenden.
Im Trend liegen auch die sogenannten Hybride – Mischformen von Materialien. Welche Rolle spielen sie?
Hybride sind Materialien, die Eigenschaften von Kunstoffen einerseits und Metallen und Keramiken andererseits aufweisen. So sind sie denn nicht nur gut formbar, sondern auch zum Beispiel leitend und – im Hinblick auf das Licht – höchst reflexiv. Aus den Hybriden mögen dann durchsichtige Spiegel gefertigt werden oder Autoscheiben, welche die Hitze abhalten.
Wir wollen Computer entwickeln, die nicht elektrische, sondern Lichtsignale senden.
Sind Hybride auch im IT-Bereich von Bedeutung?
Aus Hybriden wollen wir in den kommenden zehn Jahren auch neue Computer entwickeln. Computer, die nicht auf elektronischen Chips basieren, sondern auf Chips, die Licht prozessieren. Das heisst, diese Rechner sendeten nicht elektrische Signale, sondern Lichtsignale. Der Vorteil: Lichtteilchen bewegen sich viel schneller als Elektronen. Will heissen: Solche Computer wären viel schneller als die heutigen Rechner.
Spinnen wir den Gedanken der guten Eigenschaften eines Werkstoffs einmal weiter: Wie sähe das perfekte Material aus – abgesehen davon, dass es leit- und formbar wäre?
Es hätte optische Funktionen. Wenn es die Farbe wechseln könnte, wäre es konkret für Sensorapplikationen interessant. Könnte es weiter nicht nur Elektronen leiten, sondern auch Ionen, wäre es für bioelektronische Anwendungen prädestiniert.
Ein hehres bioelektronisches Forschungsziel ist beispielsweise die Erschaffung von synthetischen Nervenzellen. Hierbei sind wir auf Ionen angewiesen, weil Nerven mit Ionen kommunizieren; und auf Elektronen, weil wir elektronische Geräte anschliessen wollen.
Der französische Kosmetikgigant L'Oréal investiert nicht zufällig viel Geld in die materialwissenschaftliche Forschung.
Man liest, dass in der Forschung die Natur das Mass aller Dinge sei. Stimmt das?
Das stimmt heute allein schon mit Blick auf die Methoden. Denn erst seit wenigen Jahren können wir überhaupt erst wahrnehmen, wie die Strukturen von natürlichen Stoffen aussehen. Mit Elektronenmikroskopen vermögen wir den Mikrokosmos im Nanobereich zu beobachten.
Und inwiefern genau inspiriert sie nun der natürliche Mikrokosmos?
Die Hybride, die wir entwickeln möchten, sieht man etwa in der Tierwelt. Bei Wesen, die ohne Pigmente, allein mit strukturellen Farben farbig erscheinen. Australische Schmetterlinge etwa sind dann senkrecht beschaut blau, von der Seite her betrachtet aber braun.
Das Muster dieses Lichtspiels ist sehr interessant für uns. Man kann man es nicht nur in der Gebäudetechnik adaptieren, sondern auch für die Herstellung eines schillernden Nagellacks verwenden. Der französische Kosmetikgigant L'Oréal investiert nicht zufällig viel Geld in die materialwissenschaftliche Forschung.
Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?
Die ETH Zürich, die EPFL, aber auch die Universität Basel sind im Bereich der Materialwissenschaften 'on top'. Doch China steht in den Startlöchern. In Peking arbeiten neu so viele Leute auf unserem Gebiet, dass es fast beängstigend ist.
Spüren Sie die Folgen der Masseneinwanderungsinitiative?
Die Schweizer Forscher sind davon extrem betroffen, weil sie nicht mehr bei EU-Forschungsanträgen mitmachen können. Dabei ginge es bei solchen Projekten weniger ums Geld und vielmehr um den unerlässlichen Austausch der Forscher mit den besten ihres Gebiets.
Die Schweiz könnte viel verlieren, wenn sie so weiter macht. Heute betreibt man Forschung nämlich nicht mehr allein. Im Normalfall wirken rund zehn Leute und drei Labors von der ganzen Welt an Entwicklungen mit.
Das Gespräch führte Christine Scherrer