Bis sechs war Tidjane Thiam «kompletter Analphabet». Dies sagt er in einem ausführlichen Gespräch mit dem Westschweizer Radio und Fernsehen RTS. Das wäre er auch geblieben, hätte der damalige ivorische Präsident Félix Houphouët-Boigny seinen Vater nicht vorgeladen und gesagt: «Die Epoche der afrikanischen Prinzen, die nicht lesen können, ist vorbei». Von da an entwickelte sich das Jüngste von sieben Geschwistern zum Musterschüler (siehe Box).
So wie das koloniale Erbe seine Familie geprägt habe, spüre man auch bei der Credit Suisse (CS), dass die Geschichte Gewicht habe. In deren Kultur probiert man laut Thiam das zu machen, was man müsse – also die Kunden gut behandeln. Das Fortbestehen des Unternehmens sichern. Zum Erbe der CS gehöre auch die pragmatische Seite der Bankiers, zu denen der Gründer des Finanzinstituts, Alfred Escher, gehörte. Er denke dabei auch an viel Integrität und viele Prinzipien, so Thiam.
Ein Regenschirm für schlechtes Wetter
Dem neuen CS-Chef scheint Konstanz wichtig zu sein. Dass er als einer der wenigen die Finanzkrise vorausgesehen habe, streitet er ab: «Das zu sagen, ist anmassend. Ich war nur unruhig.» Er frage sich immer, wann die nächste Krise komme und glaube, dass es Strategien braucht, die für jedes, nicht nur für das schöne Wetter geeignet seien.
Nur weil es seit mehreren Jahren trocken war, heisst das nicht, dass es nie mehr regnen wird.
Seine Philosophie zeigt sich auch darin, dass Thiam bei Prudential wichtige Reserven erstellt hat. Er habe sich geweigert, den sogenannten Überschuss zu verteilen. Er hätte diesen stattdessen als «Regenschirm» betrachtet: «Nur weil es seit mehreren Jahren trocken war, heisst das nicht, dass es nie mehr regnen wird.»
Modelle, die niemand versteht
Die «unbestritten exzessive Spekulation» im Vorfeld der Finanzkrise sei auch darin begründet, dass viele Ingenieure, Physiker und Mathematiker sich in den Finanzen wiedergefunden hätten. «Ich habe diese Modelle gesehen, als ich Programme entwickelte, um die Preise für Optionen und Derivaten zu erstellen», sagt Thiam.
Beim Bau eines Atomkraftwerks berücksichtigt man auch nicht nur die Dicke des Betons.
Die Modelle seien oft von der Atomphysik abgeleitet. Baue man ein Atomkraftwert, wisse man, dass die theoretischen Berechnungen nur Annäherungen sind. Bei der Auswahl der Betondicke berücksichtige man nicht nur die Dicke, die sich aus den Gleichungen ergeben würden.
«Während der Krise haben die Leute jedoch die Modelle benutzt und mitunter deren Grundlagen ignoriert», so Thiam. Man habe die Modelle benützt zu einer Zeit, in der die Bedingungen, für die diese Modelle erstellt wurden, nicht mehr vorhanden gewesen seien.
Was zählt, ist die Vernunft
Funktionierten die Dinge nicht mehr so, wie sie es taten – wie etwa nach der Krise, sei die Vernunft gefragt. «Die Wichtigkeit des menschlichen Urteilsvermögens ist eine der Lehre, die man aus der Krise ziehen kann». Entgegen der Meinung vieler seiner Kollegen glaubt Tidjane Thiam, dass die Regulatoren diese Lehre gezogen hätten: «Sie haben viel einfachere Regeln eingeführt, die der Urteilskraft viel mehr Platz lassen.»
Es gibt eine einzige Sache auf der Welt, die sich nicht verkaufen lässt. Das ist die Vernunft.
Und wieder geht Thiam zu seinem Ursprung zurück: Einer der Beiträge seiner Muttter zur «universellen Weisheit» sei folgender: «Es gibt eine einzige Sache auf der Welt, die sich nicht verkaufen lässt. Das ist die Vernunft.»
Wie geht Thiam mit hohen Erwartungen um?
Wie geht Thiam mit Misserfolgen um? Das zu machen, wovon man überzeugt sei, sei eben sein Job, sagt Thiam. Er fokussiere immer auf die lange Sicht: «Es gibt wenige Dinge im Leben, die sowohl kurz- als auch langfristig vorteilhaft sind». Kurzfristig könne ein Entscheid unpopulär sein. Was zähle sei aber die lange Frist.
Ein weiterer Schlüssel für den Erfolg sei der Wettbewerb. Thiam glaubt an die Meritokratie und dass der Wettbewerb das Beste aus den Leuten hervorholt. Die Schweiz statuiere dabei für viele ein Exempel. Grosse Bewunderung habe er auch für die Schweizerische Demokratie. Dass die Credit Suisse auf ihn zugegangen sei, zeige für ihn eine «bestimmte Offenheit.»
Es sei jedoch das erste Mal, dass er nicht als Herausforderer ins Rennen steige. Die Erwartungen seien sehr hoch. Dabei helfen möge ihm die Einstellung, flexibel und anpassungsfähig zu sein, ohne seine Prinzipien aus den Augen zu verlieren.